Julie oder Die neue Heloise
sagte ebenso wenig, wie sie über ihren Zustand dachte: die Gegenwart ihrer Cousine hielt sie zurück. Als der Arzt hinausging, folgte ich ihm, Clara wollte es auch thun, aber Julie verhinderte sie daran, indem sie mir zugleich einen Wink mit den Augen gab, den ich verstand. Ich beeilte mich, den Arzt zu benachrichtigen, daß, wenn Gefahr wäre, dies der Frau von Orbe, und noch sorgfältiger als der Kranken, verschwiegen werden müßte, damit die Verzweiflung sie nicht vollends außer sich brächte und es ihr unmöglich machte, ihrer Freundin Dienste zu leisten. Er erklärte, daß allerdings Gefahr vorhanden sei; aberda kaum vierundzwanzig Stunden seit dem Vorfall verflossen wären, so wäre noch keine sichere Prognose möglich: die nächste Nacht würde über das Schicksal der Kranken entscheiden, und er könne sich erst am folgenden Tage mit Bestimmtheit aussprechen. Fanchon allein war bei dieser Unterredung zugegen. Und nachdem ich sie nicht ohne Mühe dahin gebracht hatte, sich zusammenzunehmen, kamen wir überein, was der Frau von Orbe und dem übrigen Hause gesagt werden solle.
Gegen Abend nöthigte Julie ihre Cousine, welche die vorige Nacht bei ihr zugebracht hatte, und wieder an ihrem Bett bleiben wollte, sich einige Stunden niederzulegen. Während dieser Zeit ließ die Kranke, da sie erfuhr, daß ihr am Fuße zur Ader gelassen werden sollte, und daß der Arzt Anstalten dazu machte, diesen rufen, und sagte zu ihm: „Herr du Bosson, wenn man einen Kranken, der sich über seinen Zustand ängstigt, täuschen zu müssen glaubt, so ist das eine Maßregel der Menschlichkeit, die ich gutheiße: aber es ist eine Grausamkeit, Allen ohne Unterschied mit überflüssigen und unangenehmen Mitteln zuzusetzen, deren Manche doch nicht bedürfen. Verordnen Sie mir Alles, was mir, Ihrer Meinung nach, wirklich nützen kann, ich werde mich pünktlich unterwerfen. Mittel aber, die nur für die Einbildungskraft sind, ersparen Sie mir: mein Körper ist krank, nicht mein Geist, und ich fürchte mich nicht, meine Tage zu beschließen, sondern nur die Zeit, die mir noch übrig bleibt, schlecht anzuwenden. Die letzten Augenblicke des Lebens sind zu kostbar, um sie vergeuden zu dürfen. Wenn Sie mein Leben nicht verlängern können, so verkürzen Sie mir es wenigstens nicht, indem Sie mir die Benutzung der wenigen Augenblicke rauben, welche mir die Natur noch läßt. Je weniger ihrer sind, desto mehr müssen Sie sie achten. Erhalten Sie mich dem Leben, oder verlassen Sie mich; sterben werde ich allein können."
So wußte diese im gewöhnlichen Leben so schüchterne und so sanfte Frau bei wichtigen Veranlassungen immer einen festen und ernsten Ton zu finden.
Die Nacht war schwer und entscheidend. Gefühl von Erstickung, Beklemmung, Ohnmacht, trockene und brennende Haut, ein heftiges Fieber, während dessen man sie oft Marcellin, als ob sie ihn zurückhalten wollte, rufen, und auch manchmal einen andern Namen aussprechen hörte, den sie auch früher in gleichem Falle so oft wiederholt hatte.
Am anderen Morgen erklärte mir der Arzt ohne Umschweif, daß er ihr nicht drei Tage mehr zu leben gebe. Mir allein wurde dieses schreckliche Geheimniß anvertraut. Die furchtbarste Stunde meines Lebens war die, während welcher ich es in meiner Brust verschlossen trug, ohne zu wissen, welchen Gebrauch ich davon machen sollte. Ich irrte allein in den Boskets umher, und grübelte, was ich zu thun hätte; auch stahlen sich einige trübe Betrachtungen ein über das Schicksal, welches mich wieder in meinem Alter zu diesem einsamen Zustande verurtheilte, der mir schon, ehe ich einen süßeren kannte, so peinlich war.
Tags zuvor hatte ich Julie versprochen, ihr den Ausspruch des Arztes treulich mitzutheilen; sie hatte mich bei Allem, was mein Herz rühren konnte, gebeten, Wort zu halten. Ich fühlte die Pflicht, die ich übernommen, auf meinem Gewissen. Aber wie? Um einer eingebildeten und nutzlosen Pflicht willen, sollte ich ihre Seele betrüben, und sie den Tod in langsamen Zügen trinken lassen? Welchen Zweck konnte in meinen Augen eine so grausame Maßregel haben? Ihr ihre letzte Stunde ankündigen, hieß das nicht sie beschleunigen? Wenn die Zeit so kurz gemessen ist, was wird dann aus den Wünschen, aus der Hoffnung, den Elementen des Lebens? Heißt es noch sein genießen, wenn man sich dem Augenblicke so nahe sieht, es zu verlieren? Sollte ich, ich ihr den Tod geben?
Ich ging mit hastigen Schritten in einer Aufregung, wie ich sie noch nie
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