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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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machen, und alle Störungen in einem Augenblicke zu vermeiden, in welchem an nichts zu denken war, als ihr beizuspringen, ließ ich den Mann in das Cabinet treten und sagte ihm, er solle die Thür hinter sich verschließen. Fanchon wurde gerufen und mit einiger Zeit und Mühe wurde die Kranke wieder zu sich gebracht. Als sie uns Alle bestürzt um sich sah, sagte sie zu uns: Kinder, es war nur zur Probe; es thut nicht so weh, als man denkt.
    Die Ruhe stellte sich wieder ein; aber der Schreck war so groß gewesen, daß ich an den Mann im Cabinet nicht mehr dachte, und als Julie mich leise fragte, was aus ihm geworden, war der Tisch gedeckt, alle Welt war da, ich wollte hineingehen, um mit ihm zu reden, aber er hatte die Thür von innen verschlossen, wie ich ihm gesagt hatte, ich mußte bis nach dem Essen warten, um ihn herauszulassen.
    Während der Mahlzeit sprach du Bosson, der zugegen war, von einer jungen Wittwe, die, wie es hieß, sich wieder verheiraten wollte, und fügte einige Bemerkungen über das traurige Loos der Wittwen hinzu. Es giebt welche, sagte ich, die noch weit mehr zu beklagen sind, nämlich die Wittwen, deren Männer noch leben. Das ist wahr, sagte Fanchon, welche sah, daß meine Rede sich auf sie bezog, besonders, wenn sie sie liebhaben. Das Gespräch kam nun auf ihren Mann, und da sie zu allen Zeiten mit Liebe von ihm gesprochen hatte, so war es natürlich, daß sie es auch in einem Augenblicke that, in welchem der Verlust ihrer Wohlthäterin ihr ihren eigenen noch schwerer machte. Sie that es in sehr rührenden Ausdrücken, lobte sein von Natur gutes Gemüth, beklagte, daß er sich durch böses Beispiel habe verführen lassen, und bedauerte ihn so aufrichtig, daß sie, schon traurig gestimmt, bis zu Thränen bewegt wurde. Plötzlich öffnet sich das Cabinet, der Mann in Lumpen tritt rasch heraus, wirft sich ihr zu Füßen und umarmt sie in Thränen zerfließend. Sie hatte ein Glas in der Hand; es entfällt ihr: Ach, Unglücklicher, wo kommst du her? Sie sinkt über ihn, und würde in Ohnmacht gefallen sein, wenn man ihr nicht schnell beigesprungen wäre.
    Das Uebrige ist leicht zu errathen. In einem Augenblick wußte man durch das ganze Haus, daß Claude Anet wieder da war. Der Mann der guten Fanchon! Welche Freude! Kaum war er aus dem Zimmer, so wurde er mit Kleidern versehen. Wenn Jeder nur zwei Hemden gehabt hätte, so würde Anet allein so viele gehabt haben, als alle anderen übrig hatten. Als ich hinauskam, um ihn kleiden zu lassen, fand ich, daß man mir zuvorgekommen war, und mußte mein Ansehen gebrauchen, um Die, welche ihn versorgt hatten, zur Zurücknahme des Ihrigen zu nöthigen.
    Fanchon wollte indeß von ihrer Herrin nicht weichen. Um sie ihrem Manne einige Stunden zu lassen, gebrauchte man den Vorwand, daß die Kinder in die Luft müßten, und die Beiden wurden beauftragt, sie zu führen.
    Dieser Auftritt belästigte die Kranke nicht so wie die früheren; er hatte nur Angenehmes gehabt, und that ihr nur wohl. Den Nachmittag brachten wir, Clara und ich, allein bei ihr zu, und hatten zwei Stundenruhigen Gespräches, das sie zu dem anziehendsten und reizendsten machte, das wir je gehabt.
    Sie begann mit einigen Bemerkungen über das rührende Schauspiel, das wir mit angesehen, das ihr so lebhaft die ersten Zeiten ihrer Jugend zurückrief; dann ging sie, der Ordnung der Begebenheiten folgend, ihr ganzes Leben durch, um zu zeigen, daß es im Ganzen genommen süß und beglückt gewesen, daß sie von Stufe zu Stufe bis zu dem Gipfel des Glückes, das auf Erden vergönnt ist, gestiegen war, und daß der Zufall, welcher ihre Tage mitten im Laufe abschnitt, allem Anscheine nach, auf ihrer natürlichen Bahn den Scheidepunkt des Guten und des Uebels bezeichnete.
    Sie dankte dem Himmel, daß er ihr ein empfindsames und zum Guten geneigtes Herz, einen gesunden Verstand, ein angenehmes Aeußere gegeben, daß er sie in einem freien Lande und nicht unter Sklaven, aus einer achtbaren Familie und nicht aus einer Race von Missethätern, in einer anständigen Lage und nicht in weltlicher Hoheit, welche die Seele verdirbt, noch in Mangel, welcher sie herabdrückt, das Licht hatte erblicken lassen. Sie wünschte sich Glück, von tugendhaften und guten, ehrenwerthen und rechtschaffenen Eltern abzustammen, die, ihre Fehler gegenseitig ausgleichend, ihren Geist nach dem ihrigen gebildet hatten, ohne ihre Schwächen oder ihre Vorurtheile auf sie überzupflanzen. Sie pries den Vorzug, in einer vernünftigen

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