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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ihr einen Freund genommen und ihr dadurch ihre Freundin wiedergegeben. Alles, Kummer und Leiden selbst, rechnete sie sich zum Vortheil, da ihr Herz dadurch verhindert worden sei, sich gegen fremdes Leiden zu verhärten. Man weiß gar nicht, sagte sie, welche Süßigkeit darin liegt, über eigenes oder fremdes Wehe weich zu werden. Die Empfindsamkeit schafft immer in der Seele eine gewisse Zufriedenheit mit sich selbst, die von Schicksal und Zufällen unabhängig ist. Wie viel habe ich geseufzt! wie viele Thränen habe ich vergossen! Ach, und wenn ich unter denselben Bedingungen mein Leben wieder beginnen sollte, so wäre das Ueble, das ich gethan habe, das Einzige, welches ich ausscheiden möchte; was ich gelitten habe, würde mir wieder angenehm sein. Saint-Preux, ich gebe Ihnen genau ihre Worte; wenn Sie ihren Brief gelesen haben werden, werden Sie sie vielleicht besser verstehen.
    Seht, fuhr sie fort, wie hoch mein Glück gestiegen ist. Ich hatte viel, ich erwartete mehr. Das Gedeihen meiner Familie, eine gute Erziehung für meine Kinder, alle meine Lieben um mich versammelt, oder doch nahe daran, bei mir zu sein. Gegenwart und Zukunft schmeichelten mir auf gleiche Weise; Genuß und Hoffnung vereinigten sich, mich glücklich zu machen; mein Glück, allmählig gesteigert, war auf seinem Gipfel; es hätte nur noch sinken können; es war gekommen, ohne daß ich es erwartet hatte, es würde entflohen sein, sobald ich es für dauerhaft gehalten hätte. Wie hätte mich das Schicksal auf dieser Höhe erhalten sollen? Ist ein dauernder Zustand der Menschen Loos?
    Nein; wenn man Alles erlangt hat, so muß man verlieren, wäre es auch nur die Freude am Besitze, die sich durch ihn selbst abstumpft. Mein Vater ist schon alt, meine Kinder sind in dem zarten Alter, in welchem das Leben noch schwach befestigt ist; wie viele Verluste konnten mich betrüben, ohne daß mir etwas neu zu erwerben bliebe. Die mütterliche Liebe wächst ohne Ende, die Kindeszärtlichkeit nimmt ab, je mehr die Kinder von ihrer Mutter entfernt leben. Mit dem fortgerückten Alter würden sich die meinigen mehr von mir getrennt haben. Sie würden in der Welt gelebt haben; sie hätten mich leicht vernchlässigen können. Sie wollen eines von ihnen nach Rußland schicken; wie viele Thränen würde mir sein Abschied gekostet haben! Alles würde sich nach und nach von mir abgelöst und nichts mir Ersatz gegeben haben für die Verluste, die ich erlitt. Wie oft hätten ich mich in der Lage befinden können, in welcher ich euch verlasse! Und hätte ich nicht doch endlich sterben müssen? Vielleicht die letzte von allen! Vielleicht allein und verlassen! Je länger man lebt, desto mehr liebt man das Leben, auch wenn man keinen Genuß davon hat; ich würde ein geplagtes Leben und die Furcht vor dem Tode gehabt hben, die gewöhnlichen Begleiter des Alters. Statt dessen nun sind meine letzten Augenblicke noch angenehm, und ich habe Kraft zu sterben, wenn man es anders sterben nennen kann, die Geliebten lebend zurückzulassen. Nein, meine Freunde, nein, meine Kinder, ich verlasse euch gewissermaßen nicht, ich bleibe bei euch; indem ich euch alle beisammen lasse, weilt mein Herz, weilt mein Geist bei euch. Ihr werdet mich beständig unter euch sehen; ihr werdet euch beständig von mir umschwebt fühlen …. Und dann werden wir wieder vereinigt werden, ich bin dessen gewiß; der gute Wolmar selbst wird mir nicht entrinnen. Mein Blick zu Gott beruhigt meine Seele und versüßt mir einen schweren Augenblick, er verheißt mir für euch dasselbe Loos, das mir zu Theil wird. Mein Geschick folgt mir und bleibt sich treu. Ich war glücklich, ich bin es, ich werde es sein, mein Glück ist sicher gestellt, ich entreiße es dem Wechsel; es hat keine Grenzen mehr als die Ewigkeit.
    Hierbei war sie, als der Geistliche eintrat. Er ehrte und schätzte sie wahrhaft, er wußte besser als Jemand, wie lebendig und aufrichtig ihr Glaube war, er war davon durch die Unterredung des vorigen Tages und überhaupt durch die Haltung, welche er bei ihr fand, noch mehr ergriffen worden. Er hatte öfters mit prahlerischer Fassung sterben sehen, nie so mit Heiterkeit. Vielleicht kam zu dem Antheil, welchen er nahm, ein geheimer Wunsch hinzu, zu sehen, ob sich diese Ruhe bis zum Ende behaupten würde. Sie hatte nicht nöthig, den Gegenstand der Unterhaltung sehr zu ändern, um einen solchen herbeizuführen, der dem Charakter des Neuhinzugekommenen entspräche. Da ihre Reden auch in gesunden Tagen nie

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