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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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wird, ist nur diese zweite Natur gemeint, in welcher der Mensch entweder gut oder böse ist. Wenn es heißt, der Böse könne seine Natur nie ändern, so gilt dies nicht von der ursprünglichen Natur, der zufolge alle Menschen gut wären, sondern von der durch Entartung ins Böse, d. h. durch allmählig eingewurzelte böse Gewohnheit erzeugten Natur. Wenn Julie sagt: „ich fühlte, daß mein Herz für die Tugend geschaffen war," so bezieht sich dies zwar im Allgemeinen auf die ursprüngliche Anlage aller Menschen: indem es aber Julie als eine Eigentümlichkeit geltend macht, welche sie von Anderen unterscheidet, bezieht es sich, nach Rousseau's Meinung, auf die zweite Natur. Die Tugendliebe war in Julien nicht durch lasterhafte Gewöhnung erstickt und war ihr so zur zweiten Natur geworden.
    Durch Gewöhnung wird der Mensch böse, wie er durch Gewöhnung gut wird. Durch Uebung kann man einen bösen Hang bezwingen; wenn man böse Begierden immer wieder zurückdrängt, so gewöhnen sie sich daran, nicht wieder zu entstehen, und umgekehrt vervielfältigen sich die Versuchungen, wenn man sich daran gewöhnt, ihnen zu erliegen. Wie man einen Baum verschneiden und verkrüppeln kann, so kann man das menschliche Naturell verkünsteln und verbilden. Es giebt keinen Bösewicht, dessen natürlicher Hang, von Anfang an richtig geleitet, nicht große Tugenden erzeugt hätte. Die Gewalt, welche der ursprünglichen Natur durch falsche Zucht angethan wird, macht das Herz trotzig und dem Guten feindselig. Böses Beispiel ist der Vater aller Laster. Solange das Herz noch das Gute liebt, kann essich von bösen Neigungen entwöhnen. Es kann dahin gebracht werden, sich durch keine Versuchung blenden zu lassen; denn alle Versuchungen sind Blendwerk der Einbildungskraft, wie wir weiterhin sehen werden. Wolmar will Saint-Preux an einen gesitteten Umgang mit Julie auf solche Art gewöhnen, wie man ein Pferd an den Anblick des Gegenstandes gewöhnt, vor dem es scheut.
    Der Mensch ist ein Knecht der Gewohnheit. Gewohnheitsdienst ist des Menschen zweite Natur.
    Da sich dieser Knechtschaft nicht entgehen läßt, so fragt es sich nur, ob der Mensch sich der guten oder der bösen Gewohnheit ergeben, ob er des Guten oder des Bösen Knecht sein wolle. Die Freiheit des Menschen besteht nur in der Wahl zwischen dem Dienst des Guten und dem Dienst des Bösen. Wir haben gesehen, daß der Mensch seiner Freiheit durch ein inneres Gefühl gewiß ist. Das Gefühl der Freiheit ist demnach zugleich der Glaube an das Gute und dessen Gegensatz, das Böse. Der Glaube ist, wie es im Ebräerbriefe heißt, die Gewißheit dessen, was man nicht sieht. Dies gilt auch hier. Die Knechte der Gewohnheit glauben an das Gute, dessen Urbild die Guten in sich tragen, während es in den Seelen der Bösen verdunkelt und ausgelöscht ist. Der Glaube an das Gute ist dem Guten durch Hebung im Guten zur zweiten Natur geworden, und mit dem Glauben die Liebe zum Guten. Seine Aufgabe ist, sich nun auch die Uebung des Guten zur zweiten Natur zu machen und die Knechtschaft der Gewohnheit in den vollkommenen Dienst des Guten zu verwandeln.
    Dem Guten zu dienen ist des Menschen Pflicht.
    *
    Das Urbild, das im Menschen wohnt, ist das ewig Schöne und Gute. Indem es ihm zum Vorbild für sein Handeln wird, ist es eine zwingende Macht, die Pflicht. Der Mensch ist der Pflicht nicht von Natur unterworfen, er soll sich ihr unterwerfen und den Gehorsam gegen sie zu seiner zweiten Natur machen. Der Zwiespalt, welcher durch die Freiheit in die ursprüngliche Natur gekommen ist, bewirkt, daß der Mensch sich mit dem Urbilde niemals vollkommen übereinstimmend fühlt. Das Gute bleibt immer nur Ziel. Das Gute soll durch die Menschen verwirklicht werden. Die Pflicht fordert fort und fort.
    Der Mensch kann daher in jedem Augenblick von der Pflicht abweichen. Die Abweichung von der Pflicht macht ihn strafbar. DieVerirrung vom Urbild wäre nicht strafbar, wenn sie ohne Schuld des Menschen geschähe; wenn aber der Mensch an das Gute glaubt, wenn er die Pflicht erkannt hat, das Urbild in seinem Handeln zu bewahren und die Freiheit in sich fühlt, danach zu leben, so ist er schuldig, es zu thun.
    Wer diese Schuldigkeit erfüllt, dient der Tugend, wer sie versäumt, dem Laster.
    Die Verirrung läßt die Möglichkeit der Umkehr auf den rechten Weg, sobald derselbe erkannt ist, frei. Aber das Laster verhärtet das Herz und verschließt es dem Guten. Das Laster ist der ausdrückliche Dienst des Bösen, das

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