Julie oder Die neue Heloise
Gegentheil des guten Dienstes. Da der Dienst des Guten als die Wiederherstellung der ursprünglichen Natur in der zweiten Natur des Menschen, und somit als des Menschen ursprüngliche und wahre Bestimmung angesehen wird, so geht der Mensch durch den Lasterdienst seiner Bestimmung und somit seinem wahren Selbst verloren: die Pflichtversäumniß selber straft ihn also.
Die Tugend schreibt indessen dem Menschen keine bestimmten Pflichten vor; sie fordert nur, daß er seine Pflichten, welche es seien, erfülle, und zwar alle seine Pflichten.
Die erste Forderung ist, daß er das Böse meide. Der Tugend Trachten, sagt Saint-Preux, ist stets darauf gerichtet, nicht sowohl Gutes, als nie Unrecht zu thun. In der That hat die Tugend, um das menschliche Handeln zu messen, kein anderes Maß als das Urbild. Das Urbild ist aber nichts als die völlig inhaltlose Vorstellung eines ewig Einen, ewig Guten, ewig Schönen. Das Urbild hat keine bestimmte, faßliche Gestalt. Es ist nichts als ein Wunsch, eine Sehnsucht, nichts als das leere, nach sich selbst verlangende Herz; er kann nichts thun, als das Unrechte, das, wodurch er sich gestört fühlt, von sich ausschließen. Die Tugend ist die Verneinung dessen, was dem Herzen zuwider ist.
Woher denn aber kommen die wirklichen Pflichten?
Auch sie kommen aus dem Herzen. Als Pflichten werden nur diejenigen anerkannt, denen das Herz zustimmt. Zum Theil erschafft sie sich das Herz, zum Theil läßt es sich dieselben von der ursprünglichen Natur vorzeichnen. Die Pflicht ist die Gebundenheit des Herzens; das Herz ist entweder von Natur gebunden oder es knüpft selber Bande und ist dann durch diese gebunden.
Jedes Band, von welchem sich das Herz gebunden fühlt, ist unzerreißbar, und tausend ewige Bande binden es, die Bande der Kindschaft, der Mutterschaft, der Liebe, der Ehe, der Freundschaft, der Dankbarkeit gegen Wohlthäter, des Vertrauens, des Gelübdes. Ein Augenblick, Ein Wort, Eine That ist entscheidend auf ewig: der Zufall schürzt einen Knoten und das Herz ist unrettbar gefangen. Dies eben wäre das Unrecht, ein Band, das einmal geknüpft ist, zu zerreißen; dies ist die Wirkung der Ewigkeit des Urbildes, daß im Hinblick auf dasselbe jedwedes Band als ein unzerstörbares erscheint, und darin bestehen die Pflichten, daß man keines seiner Bande beschädige, sondern sie alle heilig halte und alle seine Bewegungen ängstlich nach ihnen abmesse. Wird einem tugendhaften Menschen Liebe, Vertrauen gezeigt, so entsteht sogleich für ihn die Pflicht, sich dieser Liebe, dieses Vertrauens ewig werth zu zeigen. Wird ihm in seiner Noth beigesprungen, so wird er dadurch zum Vasallen seines Wohlthäters; Saint-Preux muß sich dem Lord Eduard auf Lebenszeit widmen, er kann seinem edelmüthigen Freunde nicht anders seinen Dank abstatten, als dadurch, daß er sich zu seinem ewigen Sklaven macht; daß das seine Pflicht sei, darin kommen die sämmtlichen Tugendgenossen überein, er selbst und der Lord selbst, Julie, Clara und Wolmar. Wenn der Tod scheinbar ein Band zerreißt, so ist es in Wahrheit unzerrissen; Clara ist durch die Ehe auch nach dem Tode ihres Mannes noch eben so fest gebunden als zuvor: das Herz schreibt ihr dasselbe vor, was der römische Katholicismus seinen Bekennern vorschreibt. Und nicht nur unzerrissen bleiben die Bande, welche der Tod zu lösen scheint, sondern er bewirkt noch außerdem dies, daß alle übrigen Bande sich desto fester zusammenziehen: je mehr Julie verliert, desto mehr hängt sich ihr Herz an das, was ihr bleibt und ist an den letzten Gegenstand seiner Liebe so zu sagen mit den Banden aller übrigen geknüpft. Ist hierin nur eine natürliche Regung des Herzens ausgesprochen, so ist doch diese Regung sogleich eine Pflicht, denn Alles ist Pflicht, was das heilige Herz gebietet.
Jede Pflicht also ist ihrer Natur nach unbedingt und ewig, weil die Pflicht überhaupt ewig ist, weil es im Wesen der Pflicht liegt, unbedingt verbindlich zu sein.
Weil aber alle Pflichten unbedingt sind, so ist der Zusammenstoß von ihrer zweien oder mehreren oft unvermeidlich, und es muß dann eine Pflicht der anderen weichen.
Wie die Gleichheit der Natur in die Ungleichheit, die Einheit des Urbildes in die Mannichfaltigkeit, so geht unversehens die Unbedingtheit der Pflicht in die Bedingtheit über. Die Pflichten sind nicht unbedingt, sondern durch einander selbst bedingt und bezüglich. Die bezügliche Pflicht ist natürlich eine erläßliche Pflicht. Aber der gebundene Mensch
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