Julie oder Die neue Heloise
Eduard, ob er sich denn nicht ihm, seinem Freunde, und anderen Freunden, ob er sich denn nicht dem Vaterlande, ob nicht der Menschheit schuldig sei. Und das sind bei weitem noch nicht alle über den Menschen gebietenden Mächte, die wir schon in der neuen Heloise allein kennen lernen. Nicht über sein Leben darf der Mensch frei verfügen, nicht über sein Herz, nicht über seinen Willen, über keine seiner Handlungen. Den eigenen Vortheil, ja sein Dasein opfert man dem Freunde, dem Wohlthäter, das Vaterland fordert Gut und Blut, das Gesetz fordert das Opfer der Ansicht und Ueberzeugung: Wolmar z. B. muß in die Kirche gehen und die Cultushandlungen mitmachen, die er für Possen hält.
Das Wort Tugend, sagt Julie, ist entweder nur ein leerer Schall, oder sie heischt Opfer.
Wenn das Gefühl selbst das Opfer bringt und das Herz nicht widerstrebt, wenn also das Opfer ein williges, freudiges ist, so ist es eigentlich kein Opfer; und willig, freudig sollte das Herz immerdar sein, sich der Pflicht, der Tugend hinzugeben: dies wäre der rechte Dienst. Allein dieser Fall tritt selten ein; Saint-Preux jubelt vor Freude, als er einmal entdeckt, daß er sich, obwohl um zu seiner Geliebten zu reisen. dennoch nur mit Schmerz vom Freunde getrennt habe. „Dieses Gefühl,“ ruft er aus, „hat Ihnen Alles abgetragen: wir sind quitt." Dieser Fall des willigen Opfers also tritt selten ein; gewöhnlich ist das Herz durch den Dienst der Tugend gebrochen. Die Opfer häufen sich, die Aengste steigern sich, der Tugendknecht schreit laut vor Schmerz und möchte verzweifeln. Er haßt die Tugend, der er dient. Ich hasse sie, ruft Saint-Preux aus, und bringe doch die Opfer, die sie fordert. Auch Julie in ihrer Verzweiflung findet die Tugend unmenschlich, wagt es, die Stimme Lügen zu strafen, die in ihrem Innern die schmerzlichsten Opfer von ihr fordert, und schwört die Pflichten ab, welche, wie sie sagt, mit der Natur, d. h. mit ihrem Herzenswunsche streiten. Aber sie opfert ihren Herzenswunsch dennoch.
Was opfert das tugendhafte Herz der Pflicht auf? Sich selbst, den ganzen Menschen, alle seine Beziehungen, den Anderen eben sowohl als sich, die ganze Welt, Alles so weit seine Macht reicht. Die Pflicht fordert jedes Opfer, und das wahre, das vollendete Opfer ist das Opfer der Wirklichkeit selbst, alles wirklichen Daseins, der ganzen wirklichen Welt.
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Warum bringt das Herz sich und Alles zum Opfer?
Um des Lohnes willen. Aus Eigennutz.
Darüber hat der Tugendknecht das vollständigste Bewußtsein. Er erwartet, er fordert für seinen Dienst den Lohn. Er weiß, daß die Liebe, daß die Tugend für alle Opfer reichlich entschädigen. Julie findet es bei Wolmar erstaunlich, daß er Gutes thue, da er doch an die Unsterblichkeit der Seele nicht glaube und also keinen Lohn für seine Gutthaten erwarten könne. Sie bringt hierbei das nicht in Anschlag, womit bei einer anderen Gelegenheit Saint-Preux von Clara über den Verlust der Geliebten getröstet wird, den Lohn, welchen die „feinere Eigenliebe" sich selbst in den saueren Anstrengungen des Tugenddienstes dadurch bereite, daß sie sich über die Vortrefflichkeit des Herzens, so lieben, so opfern zu können, freut und darin die vollkommenste Befriedigung findet.
Die Tugend, sagt sich der Tugenddiener, macht wahrhaft glücklich.
In jedem Genusse der Welt liegt kein Glück, wenn nicht die Tugend ihn würzt. Alle augenblickliche Befriedigungen, vergängliche Genüsse muß man dem Gute opfern, welches dauernde Befriedigung, nämlich Frieden der Seele, Ruhe des Gewissens schafft. Solche Güter verheißt sich der Tugenddiener als Lohn für seinen Dienst. Er ist genußsüchtig und trachtet nach ewigem Genusse. Die gemeinen irdischen, wirklichen Genüsse sind vergänglich. Man ist jedes Mal in kurzer Zeit gesättigt, und nach widerholten Sättigungen bekommt man wohl das ganze Ding satt, wird zuletzt des ganzen Lebens überdrüssig. Wie köstlich müßte es sein, den Genuß in vollen Zügen ewig und ewig einschlürfen zu können!
Der Tugenddiener ist schlau. Er fürchtet sich vor der Pein und dem Verdruß des Mißlingens; er möchte gern dem Schmerz entgehen, sich das irdische Glück entrinnen zu lassen. Er sucht und findet ein Mittel, sich für jeden Ausgang sicher zu stellen; ein Mittel, durch welches, „wenn man das Glück erreicht, der Genuß desselben erhöht und versüßt, und wenn man es nicht erreicht, Trost und Entschädigung dafür geboten wird."
Wie es der erste Schritt zur
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