Julie oder Die neue Heloise
nur als Gesetz in ihm wohnt, sondern als die Fähigkeit, das Urbild selbst gleichsam abzuspiegeln. Dem Menschen ist das Bild Gottes als Ahnung oder Gefühl des Urbildes eingeschaffen. Das ewige Urbild schwebt der Seele des Menschen vor.
Im Anschauen des Urbildes, das in seiner Seele wohnt und der Ordnung der Natur nach unvertilgbar ist, empfindet der Mensch das ewig Gute und das ewig Schöne. Das göttliche Urbild bezaubert Jeden, der es nur wahrnehmen will, der nicht verblendet ist durch falsche Leidenschaften, dergestalt, daß er, trotz aller Trägheit und Unlust, trachten muß, dem Urbild ähnlich, also vollkommen zu werden.
Das in uns wohnende Urbild setzt uns in den Stand, die ewigen Gesetze, welche für das Leben der Seele geordnet sind, die ewigen sittlichen Gesetze, die nicht minder unwandelbar sind, als die natürlichen Gesetze zu erkennen. Die sittlichen Gesetze machen die Menschen in höherer Weise gleich, als dies die natürlichen Gesetzt vermögen. Sie machen den Menschen erst zum vollendeten Menschen.
Wie verhält sich aber die natürliche Verschiedenheit der Menschen zu den ewigen urbildlichen Gesetzen? Verschwindet sie vor ihnen?
Nein. Das Urbild ist gefangen in den Stricken der Natur. Es bleibt zwar ewig, aber nicht in sich einig; es bleibt sich nicht getreu: es geht auseinander in eine Verschiedenheit von Urbildern. So führt z. B. Julie mit besonderer Vorliebe den Gedanken aus, daß für die beiden Geschlechter sich nur verschiedene Urbilder der Vollkommenheitdenken lassen. Es ist kein gemeinschaftliches Muster für zwei so verschiedenartige Wesen möglich. „Ein vollkommenes Weib und ein vollkommener Mann dürfen sich in ihrem sittlichen Wesen nicht ähnlicher sein, als in ihrer äußern Gestalt." Durch ihre Bedürfnisse Neigungen, Geschmack, Tugenden, kurz in Allem sind sie verschieden und müssen sie verschieden sein.
Wie sich als Gesetz der Natur die Gleichheit im Verein mit der Ungleichheit zeigte, so zeigt sich am Urbilde, daß ihm die Mannichfaltigkeit ebenso wesentlich ist als die Einheit. Es bleibt in verschiedenen Formen immer dasselbe, wie der Mensch, ob Mann oder Weib, immer doch der Mensch ist.
Wie geht es nun zu, daß das Urbild als inneres sittliches Gesetz den Willen des Menschen nicht mit gleich zwingender Gewalt beherrscht, wie das natürliche Gesetz die Leiber?
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Wenn der Mensch innerlich genöthigt wäre, das Urbild festzuhalten und an sich selbst die ewigen Gesetze unwandelbar zu offenbaren, so würde er mehr als Gott ähnlich, so würde er Gott in geistiger Hinsicht gleich sein. Gott hat aber, wie schon gesagt, keine Wesen schaffen können, die dem seinigen in Allem gleich und dem Bösen nicht unterworfen wären.
Wie das Naturböse durch die Natur der Materie, so entsteht das sittlich Böse durch die menschliche Freiheit. Das Böse ist in beider Hinsicht nichts Anderes als die Abweichung von der Regel der Natur, das eine Mal der leiblichen, das andere Mal der geistigen Natur, d. h. des Urbildes.
Das ewig Gute ist uns von Natur eingeprägt, ebenso das ewig Schöne und die Liebe zu beiden ist dem Menschen natürlich. Allein das Gepräge kann verwischt werden. Der Mensch kann sich von der Reinheit der Natur verirren, die Stimme der Natur ersticken, Maximen bilden, Institutionen aufstellen, welche unnatürlich sind, falsche Tugenden einführen und dadurch auch Andere von dem Wege der Natur, welcher der Weg des Guten ist, ableiten. Der Mensch hat Freiheit.
Es kann bezweifelt werden, ob der Mensch irgend eine Art Freiheit besitze: man kann die Behauptung aufstellen, daß Gott den Menschen wie eine Maschine, ja wie einen Klotz regiere, indem er unvermerkt alle seine Handlungen, alle seine Entschlüsse, alle seine innersten Gedanken leite. Was beweist dem Menschen das Dasein der Freiheit? Nicht der Verstand, denn der kann Alles und von Allem das Gegentheil beweisen. Das Gefühl sagt dem Menschen, daß er frei ist. „Mag mir einer doch beweisen, daß ich nicht frei bin: mein inneres Gefühl, das stärker ist als alle seinen schönen Gründe, straft ihn Lügen."
Das Gefühl des Vorbilds und das Gefühl der Freiheit ist ein und dasselbe Gefühl. Nur dem Freien kann ein Vorbild gegeben sein. Das Gefühl ist das Mittel, durch welches der Mensch seiner selbst inne wird, und zwar sogleich seiner als eines Doppelwesens oder unentschiedenen Wesens, nämlich eines Wesens, das nicht von Hause aus so ist, wie es sein soll, sondern sein wahres Wesen, seine Natur als bloßes Vorbild
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