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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Glückseligkeit ist der Zweck ihres Daseins. Die Menschen sind zu keinem andern Zweck geschaffen, nicht für Zwecke anderer Menschen, der Gesellschaft, der Menschheit, nicht für diesen oder jenen Beruf, nicht für ein Leben in abgesonderten Ständen, nicht um zu dienen, aber auch nicht um Andere dienen zu machen, nicht zum Befehlen und zum Gehorchen. Die Menschen sind von Natur nicht Herren und Knechte, die Menschen sind von Natur Alle einander gleich. Die schöne Gleichheit, in welcher Jeder das Recht und die Freiheit hat, sich selbst zu leben und Alles zu thun und zu haben, was er thun und erlangen kann und will, ist der Naturzustand. Im Naturzustande thut der Mensch, was er will, aber er will auch nichts Anderes, als was er kann
[Vergl. Im Émile, wo Rousseau die Fundamentalmaxime aufstellt: l'homme vraiment libre ne veut que ce qu'il peut et fait ca qu'il lui plait.]
.
    Der Mensch im Naturzustande ist eine bloße Abstraction
[Im Émile gesteht dieses Rousseau selbst ganz unbefangen ein: „Wir müssen unseren Zweck allgemeiner fassen und in unserem Zögling den abstracten Menschen vor Augen haben, den Menschen, wie er allen Wechselfällen des Lebens ausgesetzt ist.“ (Il faut généraliser nos vues, et considérer dans notre élève l'homme abstrait, l'homme exposé à tous les accidents de la vie humaine.)]
. Betrachtet man die wirklichen Menschen, so verschwindet die Voraussetzung der natürlichen Gleichheit augenblicklich wieder. Die Menschen sind von Natur ungleich. Verdammt werden nur diejenigen Ungleichheiten, welche sich durch das gesellschaftliche Leben der Menschen ergeben haben, und zu gesellschaftlichen Unterschieden, bürgerlichen Einrichtungen geworden sind: diese werden verdammt als die künstlichen, unnatürlichen. Die natürlichen Unterschiede müssen anerkannt werden, weil sie den ewigen Gesetzen gemäß sind. Diese sind die Unterschiede des Geschlechtes, des Alters, der Anlagen und Fähigkeiten, der Temperamente. Aus diesen Verschiedenheiten ergiebt sich die Verschiedenheit der Charaktere, welche alle gut sein und in der besten Weltordnung ihre richtige und ihnen gemäße Stelle finden würden, wenn sie nicht von dem ihnen von Ursprung einwohnenden natürlichen Gesetze, von ihrer wahren Bestimmung abwichen oder abgelenkt würden.
    Von Natur sind die Menschen nicht entweder gut oder böse, auch nicht weder gut noch böse, sondern nur gut. Auch die beiden ersteren Ansichten finden in der neuen Heloise ihre Vertretung. Während Wolmar behauptet, daß die Natur Alles ursprünglich gut mache und unverbesserlich sei, hält ihm Saint-Preux die Bemerkung entgegen, daß das Gute, welches sich als Keim zu zeigen scheine, schon selbst eine Frucht unmerklicher Arbeit an der Seele des Menschen, und daß demzufolge die ursprüngliche Anlage auch wohl weder gut noch böse, sondern neutral, blos empfänglich für Alles sein könne. Julie dagegen geht, wie Augustin und alle Prädestinatianer, von der Ansicht aus, daß Gott Einige gut, Andere böse erschaffe. Der Liebe Gottes, welche sie übrigens glaubt und predigt, widerspricht diese Annahme nicht stärker als jene, daß Gott die Menschen ursprünglich gut erschaffe, sie aber dann durch Schicksale, über welche er als der Allmächtige doch auch verfügen kann, ausarten und böse werden lasse.
    Da bei der Ansicht stehen geblieben wird, daß der Mensch von Natur gut sei, so entspringt hieraus die Folgerung, daß auch die natürlichen Neigungen, Begierden und Leidenschaften nicht an sich selbst böse, sondern gut sind. Sie werden erst böse durch den Mißbrauch.
    Die Natur also ist in ihrer ursprünglichen Natürlichkeit ganz und gar gut. Das heißt: es giebt eine gute Natur, es giebt Gutes, dasGute ist; das Gute ist nicht dadurch gut, daß wir es gut finden, sondern gut ist zu nennen, was gut an sich und durch sich selbst gut, ewig und unwandelbar gut ist. Es giebt ein absolut Gutes.
    Wie kommen wir dazu, ein absolut Gutes zu erkennen, da der Erfahrung nach Alles in der Welt zwischen Gutem und Bösem geteilt ist?
    *
    Die Welt ist Geist und Materie.
    Der Geist, das Göttliche, der belebende Hauch, das innere Wesen durchdringt die Materie und formt sie: das in dem materiellen Wesen waltende Gesetz ist das Göttliche in ihnen, welches die Welt der Erscheinungen zu einem Bilde des göttlichen Wesens macht.
    Der Mensch, der, wie die ganze Natur, zwiefachen Wesens, Geist und Leib, ist, unterscheidet sich von allen natürlichen Wesen dadurch, daß das Göttliche nicht

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