Julie oder Die neue Heloise
kann sie sich nicht selbst erlassen, sondern sie muß ihm durch den Anderen, an den er sich gebunden hat, oder durch eine andere höhere Pflicht erlassen werden.
Durch die Collisionsfälle kommt nun eine merkwürdige Erscheinung an den Tag, Da die Pflichten alle vom Herzen gesetzt werden, und keine Pflicht als Pflicht Anerkennung findet, bevor sie sich nicht in der Probe des Herzens ächt erwiesen, so sollte man meinen, daß eine Pflicht um so heiliger sein müßte, je mehr sich das Herz ihres Ursprungs aus ihm selbst bewußt ist. Aber das ist keineswegs der Fall. Wenn zwei Pflichten mit einander streiten, so gilt die dem Herzen anderswoher gegebene Pflicht höher, als die vom Herzen selbst geschaffene. Die Pflicht des kindlichen Gehorsams trägt in Juliens Herzen den Sieg über die Pflicht der dem Geliebten angelobten Treue davon. Den Pflichten der Ehe giebt Clara den Vorzug vor den Pflichten der Liebe und Freundschaft.
Diese Werthbestimmung erweist sich bei genauerer Untersuchung des Verhältnisses als durchaus richtig. Das Herz muß es sich selbst verhehlen, daß es seine Pflichten sich selber macht. Binden könnten sie es nicht, wenn es sie als sein Eigenthum betrachtetete, womit es frei schalten dürfte; sie sind vielmehr heilig, sie sind Mächte, vor denen das Herz sich beugt, denen es sich ehrfurchtsvoll unterwirft. Sie sind daher um so heiliger, je deutlicher sie das Gepräge einer von dem Herzen selbst unterschiedenen, in keiner Weise durch das Herz bestimmten und bestimmbaren Macht an sich tragen.
Weil das Herz, die Pflichten, welche es sich macht, von sich unterscheidet, und als nicht von ihm gemachte ansieht, so ist die Frage in jedem einzelnen Falle nicht: was schreibt mir mein Herz vor? sondern: was schreibt mir die Pflicht vor? Freilich muß nun wieder das Herz Auskunft darüber geben, was die Pflicht vorschreibe. Es wird zwar auch als möglich angesehen, das Gebot der Pflicht durch den Verstand zu ergründen; aber dieses Mittel gilt alsbald wieder für trüglich. Wenn Lord Eduard mit Gründen erweist, daß es im Allgemeinen Pflicht sei, zu heiraten, für ihn aber in seinem Stande nicht, so sagt ihm Wolmar, daß diese Entscheidung der Frage in Wahrheit aus seinemHerzen komme, dem sich der Verstand nur anbequemt habe. Julien räth Cara, sich durch den Verstand nicht über sich und ihre Pflichten täuschen zu lassen, sondern ihrem Herren zu folgen, das sie über ihre wahren Pflichten immer richtig aufkläre und das sie am sichersten leite.
Das Herz entscheidet also über das, was Pflicht sei, und im Collisionsfalle über den Vorzug, welchen die eine Pflicht vor der anderen verdiene. Da es nun in diesem Falle seine Lieblingspflichten, diejenigen, die es sich selbst geschaffen hat, denen hintansetzen muß, die ihm von außen auferlegt sind, den strengen Pflichten, so muß es gegen sich selbst entscheiden.
Die Collision der Pflichten ist im Herren ein Bruch.
Das von der Pflicht gebrochene Herz, das hier in eigener Sache, die es aber als Sache der Pflicht betrachtet, Richter ist, muß entweder die Sache als seine eigene Sache erkennen, der Pflicht den Rücken kehren und sich heilen, böse sein, oder es muß die Sache der Pflicht gegen sich selbst führen, sich der Pflicht opfern und gebrochen bleiben, gut sein.
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Das Opfer tritt nicht nur in besonderen Fällen, gleichsam an Fest- und Feiertagen des Tugenddienstes ein, sondern ist das beständige Geschäft des pflichtliebenden Herzens. Allerdings werden durch harte Collisionen der Pflichten unter einander oder der Pflichten und Neigungen, die ja aber in dem guten Herzen auch nur lauter Pflichtregungen sind, einzelne vorzüglich schwere und schmerzliche Opfer dem Herzen auferlegt: aber das tugendhafte Herz ist ewig ein gebrochenes Herz und opfert sich der Pflicht tagtäglich.
Das Herz will im Grunde sich angehören; sich selbst zu Liebe, zu seiner Befriedigung knüpft es Bande an, und siehe da, es schafft sich Pflichten und verstrickt sich in dem Netze seiner Pflichten dergestalt, daß es zuletzt gar nicht mehr zu sich selbst kommen kann. Man muß sich, sagt Julie öfters, nicht durch Gelübde, Anstandsformen, Observanzen zahllose willkürliche und überflüssige Pflichten aufbürden, da schon die Tugend selbst der Pflichten genug dem Menschen auferlege. Jawohl, mehr als genug, mehr als zu viel.
Wie viele Herren hat nicht das Herz! Da Saint-Preux geäußert,er sei sich keinem Menschen mehr auf Erden schuldig, könne sich tödten, so fragt ihn Lord
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