Julie oder Die neue Heloise
und Muster in sich trägt. Das Freiheitsgefühl ist Gefühl des Lebens, d. h. der Fähigkeit und des Dranges, sich selbst zu bethätigen und zu befriedigen, und zugleich Gefühl einer Regel und eines Maßes für die Wahl und Art der Bethätigung und Befriedigung bei so großem Reichthum von Möglichkeiten, als die Welt darbietet.
Das Gefühl der Freiheit als Lebensgefühl oder innerer Trieb reizt den Menschen, sein Wohl zu suchen; das Gefühl der Freiheit als Wirkung des Vorbilds oder innere Stimme belehrt ihn, daß er zwischen verschiedenen Arten des Wohles unterscheiden, und das eine verwerfen, das andere erstreben müsse, z. B. daß er sein eigenes Wohl nur insoweit suchen dürft, als das Wohl Anderer darunter nicht leide oder keine Pflicht verletzt werde. So darf sich der Mensch das Leben nehmen, wenn das Leben für ihn ein Uebel ist, aber er muß, bevor er sich das Leben nimmt, erst fragen, ob er dadurch die Erfüllung keiner Pflicht und Schuldigkeit unmöglich machen werde. Der Mensch hat also die Freiheit, Alles zu thun, was er will, wofern er kann; darf aber um der Freiheit willen nichts von dem wollen, was er kann, wofern er es nicht soll. Der Mensch kann Alles thun, was seiner Wahl unterliegt, aber er soll nur das Gute thun.
Das Gute ist also die bestimmende Macht des Menschen, wie er sein soll. Der Mensch, wie er sein soll, ist der gute Mensch. Das Gute beherrscht den guten Menschen. Der freie Mensch ist also als guter nicht frei, sondern von dem Guten gebunden. Die Freiheit an sich ist Ungebundenheit, aber die Freiheit des Guten hat den Zweck, daß er sich binden lasse: die gute oder sittliche Freiheit ist die Gebundenheit.
Die Ungebundenheit ist das Böse; der Hang zur Ungebundenheit ist der böse Hang. Daher jagt Wolmar jeden Bedienten aus dem Dienst, der einen Hang zur Ungebundenheit blicken läßt. Und Clara, welche diesen Hang in sich spürt, aber eine Dienerin des Guten ist, sucht sich die Befriedigung desselben durch die Gebundenheit zu verschaffen: um unabhängig zu sein, macht sie sich abhängig; um sich zu befreien, nimmt sie das Band der Ehe auf sich, dem ihre natürliche Ungebundenheit widerstrebt. Saint-Preux darf von der Freiheit, sich das Leben zu nehmen, keinen Gebrauch machen, denn der Dienst des Guten bindet ihn an das Leben: es wäre die äußerste Ungebundenheit dazu nöthig, um das Band, welches die Grundbedingung aller Bande ist, zu sprengen; die Ungebundenheit ist aber an sich das Böse, und somit ist es eine Sünde, sich zu tödten.
Wenn die Freiheit als Wahlfreiheit aufgefaßt wird, so bedarf der Mensch einer Kraft, das Gute zu erkennen: diese Kraft nennt Rousseau an einer Stelle, wo er die Freiheit als die Fähigkeit das Gute zu wählen bezeichnet, Vernunft. Die Vernunft ist hier die vernehmende Kraft, das vernehmende Gefühl, das Gefühl, welches das Gepräge des Urbildes in uns empfindet
[Das deutsche Wort „Vernunft" drückt hier die Meinung Rousseau's besser aus, als das französische.]
; als innere Stimme, welche uns von dem Guten Zeugniß giebt und uns dadurch nöthigt, es zu lieben, heißt dieselbe Kraft an dieser Stelle das Gewissen. Ein anderes Mal wird die Vernunft als das Vermögen das Gute zu wählen bezeichnet, enthält also die erkennende Vernunft, das vom Guten zeugende Gewissen und die Wahlfreiheit zugleich in sich; Gewissen wird an dieser zweiten Stelle der Trieb das Gute zu wollen genannt und die Freiheit ist die Macht es zu thun, also die sittliche Freiheit.
Diese Freiheit, welche die Vernunft als ein Gefühl der Abhängigkeit vom Urbild und das Gewissen als inneren Zwang, die ursprüngliche Freiheit aufzugeben und sich an das sittliche Gesetz zu binden, zu ihren Voraussetzungen hat, ist demnach vollständige Gebundenheit. Die Freiheit des Menschen ist zum bloßen Scheine gemacht. Und die Natur, welche durch die zur scheinbaren Freiheitgewordene Freiheit dem Bösen verfallen war, ist zum Guten zurückgebracht.
Die Möglichkeit des sittlich Bösen bleibt aber in der Welt bestehen. Durch die Freiheit, die einen Widerspruch in sich enthält, ist die Natur des Menschen in Widerspruch mit sich selbst versetzt. Der Mensch kann gut oder böse sein. Es giebt gute und böse Menschen.
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Die ursprüngliche Natur ist die unentschiedene, der Stand der Unschuld. Die entschiedene Natur ist die zweite Natur. Was dem Menschen zur zweiten Natur geworden, das erst ist für ihn das Natürliche, ist seine Natur.
Oft, wenn kurzweg von der Natur des Menschen gesprochen
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