Julie oder Die neue Heloise
Tugend ist, das Böse zu meiden, sagt der Glücksjäger, der nach dem höchsten und ewigen Glücke rennt, so ist es der erste Schritt zum Glücke, keine Leiden zu haben. Er will also den Leiden entgehen, oder sie umgehen, oder doch ihnen die Stachel ausreißen, und zugleich will er sich einen Genuß schaffen, der unwandelbar ist.
Die List, welche er anwendet, um die wirkliche Natur zu betrügen, besteht darin, daß er sich von der Welt losmacht, sich in sein Herz zurückzieht, sich selbst Aufgaben stellt, die nur er selbst lösen kann, um sich, wenn er sie gelöst hat, über sich und sein Werk zu freuen und in dieser Befriedigung seiner selbst glücklich zu sein. Vor lauter innerem Glück bedarf er dann des äußeren nicht, und der Genuß kann ihm nicht entgehen, weil er die Mittel seines Genusses, gleich dem Selbstschänder, überall mit sich herumträgt.
Das Opfer der Wirklichkeit ist demnach in der That kein Opfer, sondern ein Genuß. Das Opfer trägt seinen Lohn in sich. Ja, der Schmerz selbst, den es mit sich führt, ist süß. Auch dieser Schmerz ist ein verfeinerter Genuß. Die Tugendhelden versichern es jeden Augenblick, daß in dem empfindsamen Weh des Opfers eine eigne Wonne liege. Das Opfer ist ein Scheinopfer. Das gebrochene Herz, das sich selbst opfert, dieses scheinheilige Herz, opfert sich nicht auf, sondern bringt nur, mit feiner List, sich selber Opfer. Sein Eigennutz ist der Eigennutz, der das Gegentheil von sich sein will und zu sein vorgiebt, ein heuchlerischer Eigennutz.
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Die List des Herzens, welches sich selbst hintergeht, wird zur List gegen alle Welt.
Das arge, listige Herz hat die Welt überlistet, hat die Wirklichkeit zum Schein, und den Schein, das eingebildete Glück, zu seiner Wirklichkeit gemacht. Es will nun auch die anderen Menschen, will alle Herzen überlisten und sein Glück listig zu ihrer aller Glück machen. Die Casuistik ist sein Element. Es ist der Erzjesuit, der Erzheuchler. In der Casuistik der Pflichten überlistet es sich selbst, durch die List der Erziehung überlistet es die Anderen.
Es weiß recht gut, daß der Eigennutz des Menschen unbesiegbar ist, es weiß recht gut, daß, „das Dienen dem Menschen nicht natürlich" ist: es will den Eigennutz selbst benutzen, um den Menschen derTugend dienstbar zu machen. Der Eigennutz wird anerkannt, aber als das, was nicht sein soll, d. h. was in seiner wahren, natürlichen Gestalt nicht sein, sondern in eine verklärte Form verwandelt werden soll. Die Tugend überlistet deshalb den Eigennutz. Das tugendhafte Herz überredet sich selbst, daß der Dienst aufhöre Dienst zu sein, wenn man nicht einzelnen Menschen diene, sondern allgemeinen Mächten. Die Menschen, sagt es, sind ungerecht, das Gesetz ist gerecht: man muß nicht den Menschen dienen, sondern dem Gesetze. So sucht es auch die Anderen dienstbar zu machen, indem es ihnen einredet, daß sie nicht menschlichen Herren, sondern durch den Dienst, den sie den Menschen leisten, der Pflicht und der Tugend dienen. So werden die Dienstboten belehrt, daß sie nur zudem gebraucht werden, was sich mit der Würde des Menschen vertrage. Uebrigens aber gilt nichts für herabwürdigend als das Laster, und Alles, was recht und nützlich ist, für schicklich und ehrenvoll. Man gebraucht sie also zu Allem, was man will, und da man sie nicht dem Laster dienen läßt, so müssen sie glauben, daß sie, dem Herrn dienend, nicht einem Menschen, sondern der Tugend dienen.
Um selber der Tugend zu dienen, opfert man nicht seinen Eigennutz auf, sondern man überlistet ihn, man lenkt ihn dergestalt, daß er, ohne es zu wollen, der Tugend dienen müsse. Um gut zu sein, sagt Rousseau, muß man nicht sowohl seine Begierden abzustellen suchen, denn dies würde nicht gelingen, als vielmehr die Lagen und Verhältnisse, welche diese Begierden wecken könnten. Dieser Maxime gemäß, thut Julie das Gelübde, nach Wolmar's Tode nicht wieder zu heiraten, damit sie nicht aus Liebe zu ihrem früheren Geliebten in die Versuchung kommen könne, Wolmar's Tod zu wünschen. Derselben Maxime gemäß wollte Rousseau selbst sich von Niemanden zum Erben einsetzen lassen. Man muß sich alle Interessen aus dem Wege räumen, die entweder zur Uebertretung der Pflicht verlocken oder auch nur das Herz zu bösen Wünschen verleiten könnten. Denn Niemand, sagt der listige Casuist, vermag unablässig wiederkehrenden Versuchungen zu widerstehen und bis zu seinem Tode sich jederzeit zu beherrschen: man hat mehr Freiheit,
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