Julie oder Die neue Heloise
Versuchungen zu vermeiden, als sie zu besiegen.
Welch eine Marter für den Menschen, stets sich selber zu ergrübeln, zu belauern und zu betrügen!
Die Erziehung des Kindes ist nichts weiter als die Anwendung derselben List. Es wird versichert, daß man das Kind seiner eigenen Entwickelung überlassen wolle, weil der Mensch die Natur, die sich niemals irre, nicht verbessern, wohl aber leicht verderben könne. Man soll dem Kinde nichts aufzwingen, ihm nicht eine Kultur aufdrücken, die vielleicht seiner Eigenheit widerspreche, die es nur zu einer unselbstständigen Maschine machen könne. Dies klingt sehr gut. Aber was thut der Erzieher? Läßt er wirklich das Kind sich ungehindert selbst entwickeln? Nein. Er gebraucht gegen dasselbe statt der Gewalt die List. Nur nicht verbildet soll das Kind werden, gebildet aber wohl, gebildet und vervollkommnet. Zu diesem Ende soll man die Charaktere der Kinder studiren, bei dem einen Strenge, bei dem anderen Milde anwenden, dieses treiben, jenes hemmen, hier den Geist unangebaut lassen, dort ihn mit Wissenschaften zieren. Und wozu das Alles? Nicht um das Gedächtniß mit vielem Ballast zu beladen, es mit Dingen anzufüllen, die über des Kindes Fassung gehen, sondern „ihm alle Ideen, die auf sein wahres Glück abzielen und es über seine Pflichten aufklären können, mit unauslöschlichen Zügen einzudrücken, damit es von ihnen während seines ganzen Lebens auf eine seinem Wesen und seinen Fälligkeiten entsprechende Art geleitet werde." Das Kind soll weder knechtisch gehalten werden noch herrisch werden können; es soll seine Noth, seine Hülfslosigkeit und Bedürftigkeit fühlen, es soll erfahren, daß es Unvermeidliches gebe, dem man sich schweigend unterwerfen muß, es soll lernen, daß man nichts erlange, als was man durch seine Gefälligkeit, die Anspruch auf Gegendienst erwirbt, verdient habe. Alle diese Lectionen können dem Kinde nur durch List beigebracht werden: es fühlt die List, es lernt sie selbst gebrauchen, es wird zur List der Tugend und der Liebe förmlich abgerichtet, weil man sich einbildet, ihm alle seine Freiheit zu lassen, während man heimlich an ihm herumcultivirt und es verschlagenerweise in den Dienst der Tugend zu locken und an diesen Dienst zu fesseln sucht.
Dieselbe List wird, wie schon erwähnt, gegen die Dienstboten angewendet. Man kann Miethlinge nur durch Zwang zügeln; aber sie sollen den Zwang nicht merken. Das gute Herz! Es thut Niemanden Gewalt, d. h. offene Gewalt an, sondern immer nur moralischen Zwang. Man hängt dem Zwang ein Mäntelchen um und weiß es pfiffig so zu machen, daß sie sich einbilden, aus eigener Lust zu handeln und ihrem Interesse zu dienen, während sie den heiligen Dienst der Herrschaft besorgen, und so ihren Pflichten und der Tugend dienen. Sie müßten freilich herzlich dumm sein, wenn sie die List nicht bald merken und zu frommen Heuchlern werden sollten. Abgesehen davon, daß ihnen die pedantische, herrnhutische Zucht, durch welche man sie methodisch zur Ordnung, Sittsamkeit, Gefälligkeit und Aufopferung abrichtet, einen tödtlichen Ueberdruß und Ekel erregen muß.
Die Gutsbauern haben von dieser moralischen List nicht weniger zu erdulden. Sie werden zur Liebe für ihren Stand dressirt. Man setzt als Triebfeder den Ehrgeiz in Bewegung. Bei den Kindern ward dieser gefährliche Sporn verworfen; in Bezug auf den gemeinen Mann aber gilt er für wenigstens edler als die Habsucht.
Die Auserwählten, die Tugenddiener bedürfen natürlich auch dieses Spornes nicht; die Tugendkrone, das ewige Glück, hat für sie Reiz genug, um sie im Dienste der Tugend zu fesseln. Aber ohne alle List geht es dennoch nicht ab. Merkwürdig ist der moralische Zwang, der gegen Saint-Preux fortwährend geübt wird. Julie versichert dabei jedes Mal, daß sie ihm alle Freiheit lasse und sich keine Autorität über ihn anmaße. „Sie sollen sich nicht nach meinen Gründen bestimmen. Finden Sie Gegengründe, welche Sie befriedigen, und auch ich bin zufrieden. Sagen Sie mir, daß Sie ein Engel sind, und ich lasse Alles geschehen." Sie schneidet ihm so jeden Ausweg ab, indem sie ihn zwingt, ihren Willen zu thun oder sich für einen Engel zu halten. Wolmar gebraucht gegen Alle fortwährend heimliche Künste. Das Band zwischen seiner Frau und Saint-Preux will er nicht zerreißen; er will ihren Umgang regeln, auf den rechten Weg lenken, moralisch machen. Es ist schon daran erinnert, daß er Saint-Preux zu behandeln sucht, wie man ein Pferd
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