Julie oder Die neue Heloise
behandelt, welches scheut. Er hat ferner bemerkt, daß Saint-Preux sich über die Art seiner Liebe zu Julien täuscht: ehrlich enttäuschen aber will er ihn nicht, vielmehr um seine Heilung zu vollenden, geschickt ihm andere Ideen unterschieben.
An die Stelle des Zwanges, welchen die Pflicht übt, ist also die liebreiche, schmeichelnd gewinnende, unter Rosen die Ketten versteckende, nicht gerecht züchtigende, sondern gnädig verzeihende List getreten. Die Pflicht war der Zuchtmeister auf die Tugend. Die Tugend macht jetzt den Guten frei. Die Pflicht ist nicht aufgehoben — kein Titel vom Gesetze darf verloren gehen — sondern sie wird aus Liebe erfüllt. Das gebrochene Herz ist wieder ganz geworden, ist mit sich und der Tugend ausgesöhnt. Es fühlt, daß es nur sich selbst gebunden hat und bindet; die Fesseln der Wirklichkeit aber hat es listig gesprengt, die Welt ist vor ihm zergangen. Es hat sich hinaufgeschwungen in seine eigene Welt, in der es frei, um mit sich beschäftigt und selig im Genusse seiner selbst ist.
*
„Das ganze Gaukelspiel der Einbildungskraft," sagt Julie, „verschwindet vor dem Gegenstande selbst; diesen verschönert nichts mehr in den Augen des Besitzers; die Täuschung hört auf, wo der wirkliche Genuß beginnt. Das Land der Träume ist das einzige in dieser Welt, das würdig ist bewohnt zu werden, und so groß ist die Nichtigkeit der menschlichen Dinge, daß außer dem Wesen, das durch sich selbst ist, nichts schön ist, als was nicht ist."
Die Traumwelt ist die einzige, in welcher sich genußreich, selig leben läßt. Das Geisterreich, das Reich der Wesen, der Gespenster, die man selbst geschaffen, gezaubert hat, ist das einzige, in welchem man sich zu Hause fühlt, in welchem man von keinem rauhen Lüftchen der unbequemen Welt angeweht, von keinem Stein des Anstoßes gehindert, bei sich und ganz nur bei sich, unendlich, allumfassend, zeit- und raumlos, einzig und allmächtig, selber das durch sich selbst seiende Wesen, kurz ein Gott, ein Herr, ein Schöpfer ist.
Die Welt, die wirkliche Welt ist unbequem. Man muß sich in vielerlei fügen, in's Wetter, in das Maß der eigenen Kräfte, in die Zeit, in die Umstände, in die Leute. Man kann nicht, wie man möchte, man muß Vieles stehen und gehen lassen, das man anders wünscht, man kann nicht Alles haben, was das Herz begehrt, man hat Hunger und nichts zu essen. Durst und nichts zu trinken, man wird müde, man wird krank; die Menschen sind unausstehlich, wollen alle ihre eigenen Gedanken und ihren eigenen Willen haben, und sich meine Gedanken nicht gefallen lassen, meinen Willen nicht respectiren; ich will sie klug machen und sie lachen mir in's Gesicht, ich will sie glücklich machen, und sie wollen nicht auf meine Art glücklich gemacht sein. Fort aus dieser nichtigen, abscheulichen, eiteln, nichtswürdigen Welt!
Fort! Aber wohin? In's Grab? Nein; soll man sich den Würmern geben, weil man sich nicht dem Regen und Wind und den Launen der Menschen geben wollte? Also denn geflüchtet in die eigene, selbstgeschaffene Welt, in's Land der Träume!
Der Mensch, der mit der Welt nicht fertig werden, sie nicht ergründen, bezwingen, sie nicht sich, seinem Wissen und Wollen, seinem Geiste unterwerfen kann, macht es endlich wie der Fuchs in der Fabel, er spricht: die Trauben sind sauer, geht hinweg, denkt bei sich an die allersüßesten, die er sich vorstellen kann, und leckt die Zunge danach. Der Mensch verachtet die Welt und kehrt in seinen Geist ein; der hilft seiner Schwachheit auf, macht ihn seiner selbst, das heißt dann der Wahrheit, gewiß, aller Dinge, die er selbst schafft, mächtig und frei von aller Noth, weil von aller Wirklichkeit. Der Geist vernichtet den Himmel und die Erde und schafft eine neue Erde und einen neuen Himmel, inwendig in uns, ein neues Jerusalem, eine neue Welt, in welcher nicht Dinge und Menschen sind, in welcher nur die Geister aller Dinge und die reinen Engel wohnen.
Ist nun der Mensch frei? Er ist der Knecht seiner Vorstellungen geworden. Die Knechtschaft ist nur verdoppelt. Die Welt läßt ihn nicht los: er leidet Hunger und Durst nach wie vor, bedarf der Menschen wie ehedem und ist keines seiner Bedürfnisse ledig. Außerdem aber umschlingen ihn tausend geistige Bande, welche ihn hoch über der Welt seines Daseins in der Schwebe halten und es ihm unmöglich machen, der Befriedigung seiner Bedürfnisse nachzugehen. Er ist zerrissen, an zwei Welten zugleich gekettet. Um sich mit sich selbst zu
Weitere Kostenlose Bücher