Julie oder Die neue Heloise
Die Vorstellungen sind nicht, wie die wirklichen Dinge, im Einzeln verzehrbar, sie lassen mich nicht ihrer sich bemächtigen, sie bemächtigen sich meiner, sie sind ungenießbar, sie genießen und verzehren mich.
Die Herzenswesen sind ewige, heilige Mächte, d. h. ernste Mächte: sie lassen nicht mit sich spielen, vertragen keinen Spaß. Wenn daher die Heiterkeit des Lebens als durch die Herzensreligion wiederhergestellt angesehen wird, so ist dies nur ein Selbstbetrug. Kein frohes Aufjauchzen, keine laute Lust, keine Capriole nach Herzensgefallen ist erlaubt. Bei Tafel, bei Fest und Spiel führen jedes Mal Anstand und Ehrbarkeit den Vorsitz. Z. B. bei der Weinlese. .,Man trinkt, so viel man mag; die Freiheit hat keine andere Schranke als — den Anstand. Die Gegenwart der hochverehrten Herrschaft hält alle Welt im Zügel. Kommt es einmal vor, daß Einer sich vergißt, so wird er — am anderen Morgen unwiderruflich fortgeschickt." Rousseau kannte sehr wohl die Lust, sich gehen zu lassen, sich frei im Freien, ohne Zwang und Rücksicht zu bewegen, zu laufen, zu springen, zu jubeln, zu schreien: es war dies mit ein Grund, wie er selbst bekennt, warum er die Gesellschaft floh und sich gern in Einsamkeit, fern von den Menschen tummelte. Den Zwang aber völlig abzuschütteln vermochte er nicht: gegen den Zwang der von Anderen eingeführten Anstandsregeln eiferte er, und stellte ihn dafür im Herzen wieder her, verlegte den zwingenden Anstand in das eigene Innere und machte dadurch den Zwang nur zehn Mal ärger und unwiderstehlicher. In einem Zirkel, wo das Herz regiert, wie bei Wolmars, wo die Empfindsamkeit Fleisch geworden, wird dann der innere Zwang wieder zu einem äußeren. Der Anstand, den das Herz der empfindsamen Gesellschaft dictirt, ist berechtigt, ist kein falscher Zwang, sondern der ächte, und der unempfindsame Bursche, der sich ihm nicht unterwerfen will, dem sein Herz nichts sagt, wird — unbarmherzig weggejagt. Er paßt nicht zu den frommen Schafen, und man schickt ihn zu den Böcken. Die frohe Heiterkeit, die Wiederherstellung der Lebensfreude ist durch und durch erlogen. Man wird in der empfindsamen Welt nie seines Lebens froh. Wahre Heiterkeit ist nur in der Ungebundenheit möglich. Der Empfindsame aber ist an allen Gliedern von den ewigen Mächten seines Herzens gebunden. Die Mächte seiner Traumwelt leiden keine Heiterkeit. Der armen Clara zerknicken sie den frohen Sinn. In der Ehe kann sie nicht mehr froh und heiter sein. Sie würde es vorgezogen haben, weniger zufrieden zu leben und öfter lachen zu können. Aber das geht nicht: sie muß Grimassen schneiden. „Der Ehestand ist eine ernste Sache; er verträgt sich nicht mit meiner munteren Laune, er macht mich traurig und kleidet mich nicht; ohne zu rechnen, daß mir jeder Zwang unerträglich ist." Die Aermste! Sie hat „sieben ganze Jahre nicht sieben Mal recht von Herzen gelacht." Aber — die Ehe ist eine heilige Macht.
Die Ehe ist eine heilige und eine ewige Macht; denn alle Mächte, die sich das empfindsame Herz in seiner Traumwelt erschafft, sind heilig und ewig. Die Ehe ist heilig, denn das Eigenthum ist heilig, und in der Ehe ist Einer des Anderen Eigenthum. Und dieses Eigenthum bleibt, ist ewig; die Ehe ist ewig; auch der Tod vermag nicht die heilige Scheu vor ihrer Verletzung zu brechen. Daher will Clara nach ihres Mannes Tode nicht wieder heiraten, obwohl sie liebt. „Darf ich das heilige Band zerreißen, welches uns vereinigt hielt, die ewige Liebe, die ich ihm so oft schwor, einem Anderen schwören? .... Dasselbe Bild, das mir jetzt so theuer ist, würde mir dann nur Angst und Grauen machen." Die heiligen Mächte des Herzens sind grauenvolle Mächte.
Diese Mächte sind zahllos, ihr Name ist Legion. Betrachten wir beispielweise noch die Liebe.
Saint-Preux identificirt seine Liebe zu Julien mit seiner Tugend. Julie erscheint ihm nicht als ein liebenswürdiges Mädchen, sondern als ein Muster der Tugend, als ein heiliges Wesen, als die Tugend selbst. „Nein, wenn ich je aufhöre, die Tugend zu lieben, so liebe ich dich nicht mehr." Indessen — die Natur, d. h. die wirkliche, sinnliche, greift durch. „Feuer strömt durch meine Adern. — Ich fühle, daß ich endlich zu deinen Füßen meinen Geist aushauchen muß, oder — in deinen Armen." Julie dagegen ist nicht sinnlich, hat keine Begierde nach Sinnengenuß, aber „ihr zärtliches Herz bedarf der Liebe." Es regt sich in ihrem Herzen „das Bedürfniß, sich auf ewig
Weitere Kostenlose Bücher