Julie oder Die neue Heloise
vereinigen, muß er sich ganz in die neue, von ihm selbst geschaffene Welt, die sich nun seiner bemächtigt hat, hinüber zu retten suchen und dies vermag er, da die wirkliche Welt ihn ebenfalls bindet, nicht anders, als indem er jedes wirkliche Bedürfnis und Verhältniß in einen Geist verwandelt. Er schafft die Geister nicht mehr frei in seiner Phantasie, er vergeistigt die Welt selbst, er sieht in jedem Dinge einen Geist, eine unendliche Macht, er hat unzählige unsichtbare Herren, von denen Jeder ihn ganz haben will und ihn gewaltsam an sich reißt.
Ist also der Mensch in seiner Traumwelt bei sich? Beherrscht er sie? Ist sie sein Eigenthum? Nein! Er ist ihr Eigenthum geworden, sie beherrscht ihn, die Geister haben ihn und zerreißen ihn. Er muß sich vor ihnen fürchten und ihnen dienen; sie sind ehrfurchtheischende, heilige Mächte. Seine eigenen Geschöpfe, die Geschöpfe seiner Einbildungskraft sind seine Gebieter, saugen ihn aus und machen ihn selbst zum Geist, zum Schatten, zum Gespenst.
Im Katholicismus herrschte die Bestrebung, der wirklichen Welt wirklich los zu werden, nur die himmlische Welt galt für heilig, die irdischen Dinge galten für unheilig und der Fromme versagte sich ihren Gebrauch und Genuß. Dagegen rühmt sich nun der protestantische Christ, daß er das Weltliche wieder zu Ehren gebracht, daß er die Ehe, die Heiterkeit des Lebens, den Genuß aller von Gott dem Menschen geschenkten Güter in ihre Rechte wieder eingesetzt habe. Allein er hat sie nicht zu dem gemacht, was sie sind, zu Dingen, die in des Menschen Macht stehen sollen, sondern zu Dingen, in deren Macht der Mensch ist: er hat Alles geheiligt. Was der strenge, dogmatische Protestantismus nur zum Theil, nur versuchsweise, nur mit Ausnahme und mit Verklausulirung that, indem er die eigentlich heilige, dogmatische Welt für sich und abgesondert von der wirklichen Welt ausbaute, das hat die Religion des Herzens, der gemüthliche Protestantismus, das reine oder vernünftige Christenthum, das Rousseau'sche vollendet. Die Heiligung aller Dinge als Herzensangelegenheiten, ist das Werk dieses reinen und vollendeten Christenthums.
Daß alle Dinge dem Herzen heilig sind, ist im strengsten Sinne des Wortes zu nehmen. Speise und Trank ist ihm heilig: mit keinem Brodkrümchen darf sündlich umgegangen werden; jede Gabe Gottes wird mit Andacht verzehrt; um irgend ein Angenehmes zu genießen, zieht man sich in sein Kämmerlein zurück und macht feierliche Zurüstungen zum Genusse; nicht nur die Geliebte ist dem Liebenden heilig, sondern jedes Stück ihrer Kleidung, jeder Nagelabschnitt, jedes Haar von ihr. Alles weckt die innigsten, zärtlichsten, frömmsten, entzückendsten, seligsten Gefühle.
Nicht die Dinge selbst sind heilig, sondern nur ihre Seelen, ihr Geist, d. h die Vorstellungen, die man sich von ihnen macht. Seine eigenen Vorstellungen vergöttert man und betet man an. Der Sinn, mit welchem man genießt, ist die Empfindung: die Empfindsamkeit ist die Fähigkeit, die heiligen Güter des Lebens würdig zu genießen. Die Empfindung ist von den Sinnen unabhängig, sie steht unter der Herrschaft der Vorstellungen. Dies wird offen eingestanden; der Empfindsame weiß, daß er nur jenen Vorstellungen fröhnt. Unsere Empfindungen, sagt Clara, hängen von unseren Vorstellungen ab, und wenn diese einmal eine gewisse Richtung genommen haben, ändern sie dieselbe nur schwer.
Weil das Herz sich gesteht, daß es nur Vorstellungen genießt, daß es sich selbst hintergeht, daß es sich von seinen eigenen Einbildungen, die es jeden Augenblick aufheben und wegwerfen könnte, tyrannisiren läßt, so sehnt es sich nach etwas wirklich Festem, Gegenständlichem, Unwandelbarem. Wirklich ist diese Gegenständlichkeit und Festigkeit nur den wirklichen Dingen eigen, und nur als Eigenschaft derselben ewig und unantastbar, während die Dinge selbst zunichte gemacht, verzehrt, verbraucht werden. Aber das empfindsame Herz kann seine Begierde nach wirklichen Gegenständen nicht an den wirklichen Dingen befriedigen, weil es diese als nichtige, verächtliche ansieht. Daher legt es die Gegenständlichkeit, Festigkeit, Unverletzbarkeit als Eigenschaft den Gegenständen seiner Einbildungskraft, seinen Vorstellungen bei, macht diese, die es sich zu Mächten gemacht hat, zu ewigen Mächten. Jede Macht seiner Traumwelt ist nicht nur heilig, unantastbar, sondern ewig, unvergänglich. Und zwar so, daß die Heiligkeit und Ewigkeit die einzigen Eigenschaften daran sind.
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