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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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hinzugeben." Sie giebt sich in „reiner, keuscher" Liebe hin. Nichts Sinnliches, also böses, Strafbares darf diese „heilige Glut" verunreinigen. Indessen — sie bringt den Sinnen ihren Tribut. Aus Sinnlichkeit? Wie wäre das diesem ätherischen Wesen, das „sich für die Tugend geschaffen fühlt," möglich? Nein, nur — aus Mitleid. Und nun, nach dem Genusse, ist das ihr Schmerz, daß sie der Liebe „den größten Reiz geraubt." Es ist wirkliche Liebe gewesen, solche, die der Mensch in seiner Macht hat. Pfui, wie gemein! Nur diejenige Liebe, die den Menschen beherrscht, ist ätherisch, ist „heilige Glut." Und nun „ist jener süße zauberische Hauch der Tugend wie ein Traum dahin." Diesem Zauber kann auch Saint-Preux nicht widerstehen; auch er ist ja ein Tugenddiener, ein Verächter der Wirklichkeit, des Fleisches: nur wider seinen Willen ist die Sinnlichkeit mit ihm durchgegangen. Er gesteht Julien: „Ich will genießen und du willst lieben; ich habe Gluten und du hast Leidenschaft. Aber wahrlich, das Gefühl, das dein Herz rührt, ist allein die höchste Seligkeit." Als er nach der Trennung wieder mit Julien zusammenkommt, liebt er sie noch immer, aber er findet jetzt seine Gefühle für sie „rein", er findet diese Gefühle „Juliens würdiger", sie sind „nicht geschwächt", aber — „auf den richtigen Weg gelenkt." Und auf diesem „richtigen" Wege bemüht sich Wolmar die Gefühle des jungen Mannes zu erhalten; er bemüht sich, ihn vollständig „zu heilen." Die wirkliche natürliche Liebe gilt in der Traumwelt des Herzens für eine Krankheit, von der man genesen ist, wenn man sie in die ideale, himmlische, unleibhafte, gespenstige Liebe der „reinen Seelen" verwandelt hat. Von dieser heißt es dann: man habe sich ihrer als eines natürlichen Gefühles nicht zu schämen, sie sei an sich kein Verbrechen, ja sogar adle sie den Menschen, und sei „guten und großen Seelen" eigen, während nur der Auswurf der Natur ihrer unfähig sei.
    Wir lernen hier die Natur in einer neuen Form und Bedeutung kennen. Die wirklich natürliche Liebe in ihrer Natürlichkeit ist ja ein Verbrechen und eine Schmach, es sei denn, daß sie durch die Ehe legitimirt, d.h. zu einem anerkannt heiligen Bande gemacht wäre, zu einem Bande, in welchem man von den Banden der Natürlichkeit, die der Liebe anhaftet, durch eine neue, aber geistigere Knechtschaft frei geworden. So stempelt Julie nach ihrer Verheiratung ihren früheren Umgang mit Saint-Preux zu einem Frevel. „Es war ein sträflicher Umgang" und „Lästerung war es, daß wir mit dem heiligen Namen der Tugend jene rasende Liebe bezeichneten, die ihre Brunst unter dem Scheine heiliger Begeisterung barg." Und doch wird nun ein „natürliches" Gefühl auch diejenige reine Liebe genannt, deren sich die Engel im Himmel nicht zu schämen brauchten. Also hat das Natürliche hier die Bedeutung einer himmlischen Natürlichkeit, einer solchen, in welcher die ursprüngliche durch die Freiheit des Menschen verdunkelte Natur wieder hergestellt erscheint.
    Was sich an diesen einzelnen Beispielen verräth, ist ein durch die ganze Religion des Herzens hindurchgehender Zug. Das empfindsame Herz fühlt sich in steter Rückkehr zur ursprünglichen Natur begriffen. Seine Traumwelt sieht es als die wiedergeborene erste, unschuldige Natur an. Diese Unnatur (mit welcher unsere Darstellung begann) ist selbst ein Traum des empfindsamen Herzens, und indem das träumende Herz sich einbildet, zu ihr zurückzukehren, erschafft es sie sich erst. Der Naturzustand, den es dichtet und den es nur aus seiner Verdunkelung wiederherzustellen meint, ist der Gegensatz der wirklichen Natur, ist eine künstliche Natur, ist Unnatur.
    *
    Die Sehnsucht nach dem Naturzustande ist nichts Anderes, als eine Deutung, welche das empfindsame Herz seinem Hange nach Ungebundenheit giebt.
    Der Mensch kommt zu Bewußtsein und findet sich in eine künstliche Welt eingeschlossen, welche tausend seinem Herzen widerstreitende Forderungen an ihn stellt, findet sich durch das Urtheil der ihn umgebenden Menschen an tausend Einrichtungen, Bräuche, Gesetze, Meinungen, die man respectiren soll, gebunden. Er fragt: ist das nicht das Menschenwerk? Kann ich nicht darüber verfügen, so gut wie Andere darüber verfügt haben? Warum soll ich mich dem Zwange unterwerfen, den mir Andere, die meines Gleichen sind, anthun? Warum soll ich mich binden lassen durch ihre Vorurtheile, die nicht die meinigen sind, durch ihre Institutionen,

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