Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
es noch so körperlos und klein sein. Ich fürchtete mich nicht davor, etwas zu schreiben, was mich Mitleid erregend oder unfähig erscheinen ließ oder wofür mich jemand verklagen konnte. Aber ich wollte nicht - nun ja, eitel wirken. Tief unter der schrecklichen Angst war ich nämlich verdammt stolz auf mich. Schließlich hatte ich die Judith Jones dazu gebracht, dass sie zu mir zum Essen kam. Na ja, genau genommen hatte der Reporter vom Christian Science Monitor sie dazu gebracht. Aber es sollte nicht so aussehen, als prahlte ich damit. Andererseits konnte ich es nicht einfach übergehen. Schließlich kochte ich Bœuf Bourguignon , das klassische französische Gericht schlechthin, Julia Childs erstes Gericht in der Sendung The French Cook . Meine Leser würden es merken, wenn ich es überginge. Und ich wollte auch nicht schüchtern wirken.
Doch ich durfte es nicht beschreien, das wäre das Schlimmste gewesen.
Ein ziemlicher Cyberspace-Drahtseilakt, das sag ich Ihnen.
Als ich durchblicken ließ, es komme »jemand Wichtiger« zum Essen, war die Aufregung verblüffend gewaltig. In meiner Kommentarbox wurden die kühnsten Vermutungen geäußert - der Reihe nach unterstellte man erst Chairman Kaga aus der Sendung Iron Chef, dann Nigella Lawson, dann den Schauspieler-mit-dem-ich-am-liebsten-Sex-hätte David Strathairn und schließlich sogar Julia Child persönlich, an einem Mittwochabend nach Long Island City hinausfahren und mit mir essen zu wollen. Manche Leute hatten geradezu religiös-ekstatische Vorahnungen. »Wer IST ES??????«, schrieb Chris, die ich mir aus unerfindlichen Gründen inzwischen als eine Frau mittleren Alters aus Minnesota vorstellte, mit Koboldhaarschnitt und leichter Schilddrüsenüberfunktion. »Das bringt Mich UM! Ich MUSS es WISSEN!!! Bitte sag es uns Sofort, ich HALT es nicht mehr AUS!!!!«
Ich fand es merkwürdig amüsant, welch hochfliegende Erwartungen diese fremden Menschen in meine Dinnerparty setzten. Sie hielten Julie Powell mit ihrem einjährigen Kochprojekt für faszinierend genug, um die berühmtesten Küchenchefs, vielleicht sogar ein paar Filmsternchen in ihre miese Vorstadtwohnung zu locken. Verdammt, vielleicht hatten sie ja Recht? Vielleicht war mein Bœuf Bourguignon , das 95. unter den 524 Rezepten, die ich mir für ein einziges Jahr vorgenommen hatte, wirklich faszinierend! So musste es sein. Zwar kam nicht Julia Child selbst, aber immerhin ihre Lektorin. Und das war erst der Anfang. Ich wurde berühmt! Berühmt , hört ihr?
Gut, dass es immer eine Katastrophe gibt, die in den Eigendünkel ein Loch piekst, wenn er sich gefährlich aufbläht.
Ich begann mit meinem ersten Bœuf Bourguignon am Abend vor der Einladung etwa um halb zehn Uhr. Erst schnitt ich eine dicke Scheibe Speck in Streifen. Als Mom 1984 in Austin, Texas, Bœuf Bourguignon kochte, musste sie auf abgepackte Speckstreifen aus dem Hause Oscar Mayer zurückgreifen, sie hatte gar keine andere Wahl. Aber 2004 in New York gibt es dafür keinen Grund, schon gar nicht, wenn die Frau zu Besuch kommt, die Julia Child entdeckt hat. Ich kochte die Speckstreifen zehn Minuten in Wasser, damit nicht »das ganze Gericht nach Speck schmeckt«. Ich persönlich hätte damit kein Problem gehabt, aber ich bin keine Julia Child, und bei einer derart schwerwiegenden Entscheidung darf man annehmen, dass Julias Meinung ausschlaggebend ist.
Nacheinander briet ich Speck, Fleisch und Gemüse an, dann warf ich alles zusammen wieder in den Topf, goss Rotwein dazu, bis es bedeckt war, und fügte noch einen Löffel Tomatenmark, zerdrückten Knoblauch und ein Lorbeerblatt hinzu. Das Ganze brachte ich auf der Herdplatte zum Kochen und schob es dann bei 160 Grad in den Ofen.
Von diesem Augenblick an liefen die Dinge aus dem Ruder. Bœuf Bourguignon soll drei bis vier Stunden kochen, und es war bereits zehn Uhr vorbei. Ich traf also die schicksalhafte (ehrlicherweise könnte ich auch sagen: falsche) Entscheidung, während der Wartezeit ein oder zwei Wodka Tonic zu trinken. Nach zweieinhalb - Wodka Tonics, nicht Stunden - traf ich die schicksalhafte /falsche Entscheidung Nr. 2, mir für halb zwei Uhr früh den Wecker zu stellen, dann aufzustehen, den Eintopf aus dem Rohr zu holen und ihn bis zum Morgen auf der Herdplatte abkühlen zu lassen. Eric lag bereits ausgestreckt auf dem Bett, auch er hatte diverse Wodka Tonics intus und dazu die Speck-mit-Chili-Pizza vom Abendessen. Ich griff über ihn hinweg und holte mir den Wecker, eines dieser
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