Juliet, Naked
holte tief Luft und wartete ab, dass der Schock
sich ein wenig legte, ehe er etwas sagte.
»Dir hat es nicht gefallen?«
»Na ja, war schon okay. Mal ganz interessant, wenn man die andere Version kennt. Ich glaub nicht, dass ich es mir ein zweites
Mal anhöre. Wie fandest du es denn?«
»Ich halte es für ein Meisterwerk. Ich finde, es schlägt das andere um Längen. Und da das andere für mich das beste Album
aller Zeiten ist …«
»Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«
»Lahm! Großer Gott. Was findest du denn sonst noch lahm? König Lear? Das wüste Land?«
»Hör auf damit, Duncan. Du verlierst immer die Beherrschung, wenn du wütend wirst.«
»Das hat Wut so an sich.«
»Ja, aber … Wir haben schließlich keinen Ehekrach. Wir versuchen hier über den Wert einer, na ja, kreativen Leistung zu diskutieren.«
»Nicht, wenn’s nach dir geht. Deiner Meinung nach diskutieren wir hier über einen Haufen Scheiße.«
»Da haben wir’s. Du findest, es ist König Lear, ich halte es für einen Haufen Scheiße … Komm wieder runter, Duncan. Ich finde
die andere Version toll. Ich nehme an, die meisten Menschen werden so empfinden.«
»Oha, die meisten Menschen. Wir wissen doch alle, was von der Meinung der meisten Menschen zu halten ist. Pöbel und Gesocks.
Herrje, die kaufen sich lieber die Platte irgendeines Tanzaffen aus einer Realityshow im Fernsehen.«
»Duncan Mitchell, der große Populist.«
»Ich bin bloß so … Ich bin so enttäuscht von dir, Annie. Ich hätte echt mehr von dir erwartet.«
»Na prima, Stufe zwei. Nun wird daraus ein moralisches Versagen meinerseits. Ein charakterliches Defizit.«
»Tut mir leid, aber so ist es nun mal. Wenn du das Besondere an dieser Version nicht hören kannst, bist du …«
»Ja, was bin ich? Verrat es mir bitte. Ich brenne darauf, zu hören, was ich dann bin.«
»Das Naheliegende.«
»Und das wäre?«
»Dann wärst du, was weiß ich. Dann wärst du eben verblödet.«
»Besten Dank.«
»Ich sag ja nicht, du bist verblödet; ich sag nur, du wärst es, wenn du an dieser Version nichts Besonderes hören könntest.«
»Kann ich aber nicht.«
Da rannte er wieder aus dem Haus und samt iPod zurück zu der Bank mit Meerblick.
Es verstrich noch eine gute weitere Stunde, bevor er überhaupt an die Website dachte. Er wäre der Erste, der über dieses Album
schrieb, wenn er sich beeilte. Noch besser: Er wäre der Erste, der die Crowe-Community überhaupt von dessen Existenz in Kenntnis
setzte! Er hatte sich Juliet, Naked viermal angehört und sich bereits einen großen Teil von dem, was er darüber sagen wollte, zurechtgelegt, und in jedem Fall
würde er seinen Vorsprung riskieren, wenn er noch länger wartete. Er glaubte nicht, dass Paul Hill bislang noch jemand anderen
vom Messageboard kontaktet hatte, aber es waren heute Morgen bestimmt in allen möglichen Briefkästen Kopien gelandet. Er musste
zurück nach Hause, egal, wie viel Feindseligkeit er gegenüber Annie empfand.
Es war dann kein Problem, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie telefonierte in der Küche, wahrscheinlich mit ihrerMutter oder ihrer Schwester. (Und überhaupt, wer telefonierte schon mit Verwandten, unmittelbar nachdem er aus dem Urlaub
zurückgekommen war? Bewies das nicht Einiges? Was, wusste er allerdings nicht so genau. Aber er fand, dass jemand, der noch
so stark mit seinem Elternhaus verbunden war, im Grunde also mit seiner Kindheit, kaum empfänglich sein konnte für die ungeschönten
erwachsenen Wahrheiten, mit denen Juliet, Naked so reich gesegnet war. Irgendwann würde sie es vielleicht kapieren, aber wenn, dann wahrscheinlich erst in ein paar Jahren.)
Ihr gemeinsames Büro war auf halber Treppe. Der Immobilienmakler, der ihnen das Haus verkauft hatte, war unerklärlicherweise
davon überzeugt gewesen, dass sie den winzigen Raum eines Tages als Kinderzimmer nutzen würden, bevor sie dann raus aus der
Stadt ins Grüne und in ein Haus mit Garten zögen. Sie würden ihr Haus dann einem anderen Paar verkaufen, das seinerseits,
wenn die Zeit gekommen war, das Gleiche täte. Duncan hatte sich schon mal gefragt, ob ihre Kinderlosigkeit eine direkte Reaktion
auf diese deprimierende Vorhersehbarkeit war – ob der Immobilienmakler ihnen unabsichtlich, aber effektiv die Entscheidung
abgenommen hatte.
Heute war es das genaue Gegenteil eines Kinderzimmers. Es beherbergte zwei Laptops, die nebeneinander auf einem Arbeitstisch
standen, zwei Stühle, ein
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