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Juliet, Naked

Juliet, Naked

Titel: Juliet, Naked Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Hornby
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Randale, Maßregelung und missbilligende Kollegen, aber ob sie nun drei oder dreißig
     Minuten vor der Öffnung eines kleinen und spärlich besuchten Museums eintraf, interessierte niemanden. (Tatsächlich würde
     es auch niemanden kümmern, wenn sie drei oder dreißig Minuten nach der Öffnungszeit erschien.)
    Mal mitten am Vormittag wegzugehen und sich einen Kaffee zum Mitnehmen zu holen, war in ihrem alten Job ein wiederkehrender,
     wenn auch ziemlich armseliger Tagtraum gewesen. Nun achtete sie darauf, dass sie es jeden Tag machte, ob sie das Koffein brauchte
     oder nicht. Na gut, es gab schon ein paar Dinge, die sie vermisste: dieses Gefühl, das sich einstellte, wenn eine Stunde gut
     verlief, um sie herum nur strahlende Augen, und die Konzentration wie etwas war, das an der Kleidung haften blieb. Und manchmal
     konnte sie auch die Energie, den Optimismus und Lebendigkeit ganz gut gebrauchen, die man in jedem Kind finden konnte, egal,
     wie mürrisch und vorgeschädigt es auf den erstenBlick erschien. Aber meistens war sie immer noch froh, aus dem Gefangenenlager der weiterführenden Schulen in die Freiheit
     entkommen zu sein.
    Die meiste Zeit des Tages arbeitete sie für sich allein, hauptsächlich damit beschäftigt, Spenden aufzutreiben, auch wenn
     diese Tätigkeit sich zunehmend fruchtloser gestaltete: Offenbar hatte zurzeit niemand Geld für das Not leidende Museum eines
     Badeörtchens übrig, und das würde sich wahrscheinlich auch nicht mehr ändern. Gelegentlich machte sie Führungen für Schulklassen,
     so hatte sich überhaupt die Chance ergeben, dem Klassenzimmer zu entfliehen. Am Empfang saß immer eine Ehrenamtliche, meistens
     Vi, Margret oder Joyce oder eine andere alte Lady, deren Bedürfnis, ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, Annie immer
     wieder rührend fand, wenn sie sich überhaupt Gedanken darüber machte. Und wenn eine besondere Ausstellung anstand, arbeitete
     sie mit Ros zusammen, einer freischaffenden Kuratorin, die außerdem noch an Duncans College Geschichte unterrichtete. (Duncan
     hatte sich natürlich nie überwinden können, bei einem seiner Besuche im Lehrerzimmer mit ihr zu reden, denn sie hätte sich
     ja als »Klette« entpuppen können.) Ros und Annie versuchten zurzeit, eine Fotoausstellung über die Hitzewelle im Sommer 1964
     auf die Beine zu stellen; damals hatte man den alten Marktplatz saniert, die Stones hatten im ABC-Kino ein Stück die Straße
     weiter gespielt, und ein siebeneinhalb Meter langer Hai war an den Strand gespült worden. Sie hatten die Einheimischen zur
     Mitarbeit aufgefordert und alle wichtigen Websites für Orts- und Heimatgeschichte kontaktet, die ihnen einfielen. Bislang
     hatten sie aber erst zwei Schnappschüsse erhalten – einen von dem Hai, der offensichtlich an irgendeiner Pilzinfektion gestorben
     war, aber das Fotowar viel zu grausam, um es in einer Ausstellung zu zeigen, die einen goldenen Sommer feiern sollte. Die zweite Aufnahme zeigte
     eine Gruppe von Leuten – Arbeitskollegen? –, die sich auf der Strandpromenade amüsierten. Diese Fotografie war ein paar Tage,
     nachdem sie im Internet inseriert hatten, mit der Post gekommen, und sie konnte es immer noch kaum fassen, wie perfekt sie
     war. Die Männer präsentierten sich hemdsärmelig mit Hosenträgern, die Frauen in geblümten Sommerkleidern; ihre Zähne waren
     schlecht, die Gesichter faltig, das Haar pomadisiert, und sie sahen aus, als hätten sie noch nie im Leben so viel Spaß gehabt.
     Das hatte sie auch zu Ros gesagt, als sie das Bild sah – »Schau sie dir an! Als wäre es der schönste Tag in ihrem Leben!«
     Und sie lachte, so sehr war sie davon überzeugt, dass die Freude der Leute einer Manipulation des Fotografen, Alkohol oder
     einem schmutzigen Witz zu verdanken war, allem, nur nicht dem Tag an der See und der Umgebung. Und Ros hatte bloß gesagt:
     »Tja, war es höchstwahrscheinlich auch.«
    Annie, die im Begriff stand, auf eine halbwegs nette dreiwöchige USA-Reise zu gehen – nett, aber nicht weltbewegend, diese
     Berge in Montana – schämte sich. 1964, fünf Jahre vor ihrer Geburt, war es Engländern anscheinend noch möglich gewesen, sich
     über einen freien Tag in einem Badeort im Norden unbändig zu freuen. Sie betrachtete das Foto noch einmal und fragte sich,
     was sie wohl von Beruf gewesen waren, wie viel Geld sie in genau diesem Moment in der Tasche gehabt hatten, wie lang ihre
     Ferien gewesen waren, wie lange sie gelebt hatten.

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