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Juliet, Naked

Juliet, Naked

Titel: Juliet, Naked Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Hornby
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Annie war nie reich gewesen. Dennoch war sie in jedem europäischen Land,
     das sie hatte besuchen wollen, in den USA und sogar in Australien gewesen. Wie, so fragte sie sich, sind wir von damals nach
     hier gekommen? Plötzlich begriff sie den Sinn der Ausstellung, diesie ohne echten Enthusiasmus oder konkrete Absicht geplant und konzipiert hatte. Und mehr noch, sie begriff, wie viel die
     Stadt, in der sie lebte, den Menschen bedeutet hatte, etwas, das sie und alle, die sie kannte, sich kaum noch vorstellen konnten.
     Ihre Arbeit nahm sie immer ernst, doch nun war sie fest entschlossen, einen Weg zu finden, damit die Besucher des Museums
     das Gleiche empfanden wie sie.
    Aber dann, nach dem toten Hai, blieben die Fotos einfach aus. Sie hatte 1964 schon abgeschrieben, auch wenn sie es Ros noch
     nicht gebeichtet hatte, und schon überlegt, wie man die Spurensuche ausweiten könnte, ohne die Ausstellung gänzlich ins Vage
     und Beliebige abdriften zu lassen. Die drei Wochen Urlaub hatten ihr jedoch wieder neuen Mut gegeben, nicht zuletzt, weil
     sie nun den angesammelten Posteingang aus achtzehn Tagen durchsehen konnte.
    Es waren zwei weitere Fotos darunter. Eins war von einem Mann eingereicht worden, der die Sachen seiner kürzlich verstorbenen
     Mutter durchgesehen hatte: ein recht hübscher Schnappschuss von einem kleinen Mädchen, das neben einem Kasperletheater stand.
     Das andere, das ohne Begleitschreiben eingegangen war, zeigte den toten Hai. Annie fand, über den toten Hai hätte sie mehr
     als genug, und wünschte, sie hätte ihn nie erwähnt. Sie hatte ihn in ihrem Aufruf nur genannt, um das Erinnerungsvermögen
     der überalterten Einwohner des Orts ein bisschen anzustoßen. Genauso gut hätte sie die Nachricht TOTER-HAI-BILDER GESUCHT
     rausschicken können. Dieses Bild nun zeigte offensichtlich ein Loch in der Flanke des Tiers, wo das Fleisch einfach weggefault
     war.
    Sie ging den Rest der Post durch, beantwortete ein paar E-Mails und ging dann raus, ihren Kaffee holen.Erst auf dem Rückweg fiel ihr wieder Duncans manische Aktivität vom Vorabend ein. Sie wusste, dass seine Besprechung eine
     Reaktion provoziert hatte, denn er lief ständig die Treppe hoch und runter, checkte seine Mails, las die Kommentare auf der
     Website, schüttelte den Kopf und gluckste vergnügt über die seltsame und plötzlich lebendig gewordene Welt, die er bewohnte,
     in sich hinein. Aber ihr hatte er nicht gezeigt, was er geschrieben hatte, und sie hatte nun das Gefühl, sie sollte es lesen.
     Nicht nur das, wie ihr bewusst wurde: Sie wollte es sogar lesen. Sie hatte die Platte noch vor ihm gehört, und das bedeutete, dass sie sich zum ersten Mal überhaupt eine
     Meinung gebildet hatte, die nicht durch die Verkündigung seines einschüchternden und endgültigen Geschmacksurteils beeinflusst
     war … sie wollte sehen, wie verbohrt er sein konnte, wie weit sie tatsächlich auseinander lagen.
    Sie loggte sich auf der Website ein (aus irgendeinem Grund hatte sie sie als Lesezeichen gespeichert) und druckte sich den
     Text aus, damit sie sich besser darauf konzentrieren konnte. Als sie ihn ausgelesen hatte, war sie ernsthaft sauer auf Duncan.
     Sie war wütend auf seine Selbstgefälligkeit, seine offenkundige Neigung, vor seinen Fan-Freunden anzugeben, wo er doch eigentlich
     kameradschaftliche Gefühle für sie hegen sollte, auch seine Engstirnigkeit ärgerte sie, seine Unfähigkeit, etwas zu teilen,
     was in dieser schrumpfenden und zunehmend bedrängten Community offenkundig von Wert war. Aber vor allem ärgerte sie seine
     Verstocktheit. Wie konnten diese Entwürfe von Songs besser sein als das fertige Produkt? Wieso sollte es besser sein, etwas
     halb fertig zu lassen, als es auszuarbeiten, ihm den letzten Schliff zu geben, es zu arrangieren und zu strukturieren, bis
     die Musik das ausdrückte, was man mit ihrausdrücken wollte? Je länger sie Duncans absurden Text anstarrte, desto wütender wurde sie, bis sie schließlich so wütend
     war, dass die Wut selbst Gegenstand ihrer Neugier wurde: Sie stellte sie vor ein Rätsel. Tucker Crowe war Duncans Hobby, und
     Leute mit Hobbys machten nun mal seltsame Dinge. Aber Musikhören war nicht so etwas wie Briefmarkensammeln oder Fliegenfischen
     oder das Basteln von Flaschenschiffen. Musikhören war etwas, das sie auch tat, oft und mit großer Freude, und Duncan schaffte
     es irgendwie, ihr das zu verleiden, indem er ihr das Gefühl gab, dabei etwas falsch zu machen. War es

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