Juliet, Naked
unerklärlicherweise hierhin verschlagen hatte,
wo sie doch für dreißig Ocken ans Mittelmeer hätten fliegen können, machten an diesem Morgen allesamt Gesichter, als wären
sie übers Ohr gehauen worden. Erbärmlicher konnte die vermenschlichte Natur nicht ausfallen. Er holte sich einen Becher Instantkaffee
vom Griechen am Pier und setzte sich auf eine Bank mit Blick aufs Meer. Er war bereit.
Einundvierzig Minuten später kramte er gerade in seinen Taschen nach etwas, das er als Taschentuch benutzen könnte, als eine
nicht mehr ganz junge Frau auf ihn zutrat und ihn am Arm berührte.
»Brauchen Sie jemanden, mit dem Sie reden können?«, fragte sie freundlich.
»Oh. Danke schön. Nein, nein. Alles in Ordnung.«
Er fasste sich ins Gesicht – er hatte heftiger geweint, als ihm bewusst gewesen war.
»Sind Sie sicher? Sie sehen nicht gut aus.«
»Doch, alles okay … Ich hatte gerade nur … Ich habe gerade nur eine sehr emotionale Erfahrung gemacht.« Er hielt ihr einen
seiner Kopfhörer hin, als würde das etwas erklären. »Hiermit.«
»Sie weinen über Musik?«
Die Frau starrte ihn an, als wäre er eine Art Perverser.
»Nun«, sagte Duncan, »ich weine nicht über sie. Ich bin nicht sicher, ob das die richtige Präposition ist.«
Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.
Er hörte sich das Album noch zweimal von vorne bis hinten an, als er dort auf der Bank saß, und während des dritten Durchgangs
stand er auf und ging nach Hause. Wahre Kunst bewirkt eines: Sie lässt uns andere Menschen stärker lieben, ihnen ihre kleinen
Grenzüberschreitungen nachsehen. Ihr gelingt, was eigentlich die Religion schaffen sollte, wenn man mal darüber nachdenkt.
Was machte es schon, dass Annie sich das Album vor ihm angehört hatte? Man denke doch bloß an all die Leute, die das Originalalbum
vor ihm gehört hatten! Oder die ganzen Leute, die Taxi Driver vor ihm gesehen hatten! Hatte das die Wirkung geschmälert? War es deswegen weniger seins? Er wollte nach Hause gehen, sie
umarmen und mit ihr über einen Morgen reden, den er nie vergessen würde. Und er wollte auch hören, wie sie das Album fand.
Er schätzte ihre Meinung zu Crowes Werk – sie konnte mitunter überraschend scharfsinnig sein, wenn man bedachte, mit welchem
Widerwillen sie sich des Themas angenommen hatte, und er wollte wissen, ob ihr die gleichen Dinge aufgefallen waren wie ihm:
Das Fehlen des Refrains in ›The Twentieth Call Of The Day‹ zum Beispiel, was dem Stück eine Unbarmherzigkeit und einen Selbstekel
mitgab, den man in seiner »fertigen« Fassung nicht so recht finden konnte. (Er würde diese Version jedem um die Ohren hauen,
der es wagen sollte, noch mal mit der Schote zu kommen, Crowe wäre der Dylan des kleinen Mannes. ›The Twentieth Call Of The
Day‹ war Duncans Meinung nach ›Positively Fourth Street‹, besaß aber mehr Tiefe und Gewicht. Und Tucker konnte singen.) Und
werhätte gedacht, dass ›And You Are?‹ so unheilvoll klingen konnte? Auf Juliet war es ein Stück über zwei Menschen, die sich auf Anhieb verstehen – anders gesagt, es war ein einfaches (aber großartiges)
Liebeslied – ein sonniger Tag, bevor die emotionalen Unwetter von der See her aufzogen. Aber auf Juliet, Naked war es, als stünden die beiden Liebenden in einer kleinen Pfütze von Sonnenlicht, die schon zu schrumpfen begann, während
sie sich das erste Mal unterhielten. Sie konnten den Donner und den Regen bereits sehen, und das machte das Album irgendwie
perfekter, homogener. Es war eine echte Tragödie, bei der das Verhängnis, das über sie kommen würde, sich schon ganz zu Beginn
andeutete. Die ausdruckslose Zurückhaltung von ›You And Your Perfect Life‹ hingegen gab dem Song eine überwältigende Power,
die von dem Pomp der Rock-’n’-Roll-Version überdeckt wurde.
Annie war immer noch in der Küche, als er nach Hause kam und las am Küchentisch bei einer Tasse Kaffee den Guardian . Er trat hinter sie und umarmte sie, wahrscheinlich länger, als es ihr angenehm war.
»Wofür ist das?«, fragte sie mit moderater, aber entschlossener Zuneigung. »Ich dachte, du wärst sauer auf mich.«
»Tut mir leid. Echt blöd von mir. Unwichtig. Ist doch egal, wer es als Erster hört.«
»Ich weiß. Ich hätte dich warnen sollen, dass es ein bisschen lahm ist. Aber ich dachte, dann wärst du noch saurer geworden.«
Ihm war, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Er ließ sie los,
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