Juliet, Naked
Gerät, das Vinyl in mp3s umwandelte, und etwa zweitausend CDs, darunter Bootlegs von jedem Konzert,
das Tucker Crowe zwischen 1982 und 1986 gegeben hatte, mit Ausnahme des Auftritts vom September 1984 im KB in Malmö, Schweden,
das bizarrerweise anscheinend niemand mitgeschnitten hatte – ein beständiger Stachel im Fleisch eines jeden wahren Anhängers,
vorallem, da Crowe einer normalerweise zuverlässigen schwedischen Quelle zufolge just an diesem Abend – und danach nie wieder
– eine Coverversion von ›Love Will Tear Us Apart‹ gespielt hatte. Duncan räumte die Kontoauszüge und Briefe beiseite, die
Annie geöffnet und neben seinen Computer gelegt hatte, damit er sie durchsah, öffnete eine Datei und begann zu tippen. Er
produzierte dreitausend Wörter in knapp zwei Stunden und stellte sie um fünf Uhr nachmittags auf die Website. Um zehn Uhr
abends waren dreihundertunddreiundsechzig Kommentare von Fans aus elf Ländern eingegangen.
Am nächsten Tag musste er feststellen, dass er ein etwas zu großes Geschütz aufgefahren hatte. »Neben Juliet, Naked wirkt
alles, was Tucker Crowe je aufgenommen hat, ein wenig blasser, eine Idee zu glatt, ein bisschen zu wohltemperiert … Und wenn
es das schon mit Crowes Werk macht, kann man sich vorstellen, wie alle anderen dagegen abschneiden.« Er hatte nicht die Absicht
gehabt, sich Diskussionen um die Meriten von James Brown, den Stones oder Frank Sinatra ans Bein zu binden. Er hatte natürlich
Crowes Kollegen aus der Zunft der Singer-Songwriter gemeint, aber die Begriffsstutzigen hatten es anders aufgefasst. »Gegen
diese Version von ›You And Your Perfect Life‹ klingt die, die ihr bereits kennt, wie ein Westlife-Album …« Wenn er sich etwas
geduldet hätte, hätte er festgestellt, dass Clothed , also die »angezogene« Version (es war unvermeidlich, dass Juliet zwecks besserer Unterscheidung zu Naked bald unter diesem Titel lief) ihre Vormachtstellung nach dem ersten Schock recht problemlos zurückgewann. Und er wünschte
sich, er hätte Westlife komplett rausgelassen, denn so ein durchgedrehter Westlife-Fan stieß auf seinen Eintrag und postete
einenganzen Tag lang obszöne Nachrichten aufs Messageboard.
In seiner Naivität hatte er gar nicht mit wütenden Reaktionen gerechnet. Aber dann stellte er sich vor, was gewesen wäre,
wenn er auf der Suche nach ein bisschen Tratsch und Klatsch, etwa dem Verweis auf ein Interview mit dem Typen, der das Cover
der EP gestaltet hatte, auf die Website gegangen wäre, um dann feststellen zu müssen, dass es ein komplettes Album gab, von
dem er noch nie gehört hatte. Das wäre, als würde man den Fernseher für den regionalen Wetterbericht einschalten und erfahren,
dass der Himmel gerade einstürzte. Er wäre gewiss nicht begeistert gewesen und er hätte mit Sicherheit nicht die blasierte
Rezension irgendeines Schnösels lesen wollen. Er hätte den Rezensenten garantiert gehasst und höchstwahrscheinlich auf der
Stelle beschlossen, dass das Album nur scheiße sein konnte. Jetzt machte er sich Sorgen, dass seine begeisterte Besprechung Naked einen Bärendienst erwiesen haben könnte: Nun konnte sich niemand – keiner der echten Fans jedenfalls, und man konnte sich
schwerlich vorstellen, dass sich sonst jemand dafür interessierte – das Album vorurteilsfrei anhören. O ja, es war schon kein
leichtes Geschäft, ein Freund der schönen Künste zu sein. Da spielte wesentlich mehr Missgunst mit hinein, als man meinen
sollte.
Die Reaktionen, die ihm am wichtigsten waren, kamen per E-Mail von den Crowologen, die er gut kannte. Ed West schrieb einfach:
»Scheiße, nee. Her damit. Pronto.« Geoff Oldfield meinte (mit unnötiger Grausamkeit, wie Duncan fand): »Das, mein Freund,
war dein Moment an der Sonne. So etwas wirst du nie wieder erleben.« John Taylor zitierte aus ›The Better Man‹: »Luck is a
disease / I don’t want it near me.« Duncanerstellte eine Mailing-Liste und begann, ihnen allen die Songs zu schicken, einen nach dem anderen. Morgen früh würde eine
Handvoll Männer mittleren Alters es bereuen, viel zu spät zu Bett gegangen zu sein.
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Annie hatte gedacht, sie würde ewig Lehrerin bleiben müssen, und ihren Beruf derart gehasst, dass es sie selbst heute noch
glücklich machte, wenn sie zehn oder fünfzehn Minuten zu spät in ihr Museum kam. Für eine Lehrerin hätten diese fünfzehn Minuten
eine demütigende Katastrophe bedeutet,
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