Juliet, Naked
mit Malcolm. Deswegen hatte sie irgendwann aufgegeben und begonnen, ihm Dinge zu erzählen,
wie man sie Therapeuten eben erzählte; Zeug über ihre Eltern und ihr unglückliches Liebesleben: Das brachte sie weg von dem
peinlichen, deprimierenden Smalltalk.
»Gedemütigt«, sagte sie unvermittelt.
»Pardon?«
»Sie haben mich um ein besseres Wort gebeten, um zu beschreiben, wie ich mich fühle. Ich fühle mich gedemütigt.«
»Das ist ganz normal.«
»Wütend auf mich selbst, wütend auf ihn.«
»Weil?«
»Weil das so absehbar war. Er würde jemanden kennenlernen oder ich würde jemanden kennenlernen, und fertig. Ich hätte also
schon vor Ewigkeiten Schluss machen sollen. Es war reine Trägheit. Und jetzt bin ich die Gear... die Gelackmeierte.«
Malcolm blieb stumm. Annie wusste, dass dies eine Technik war, die von Therapeuten erwartet wurde; wenn sie lange genug warteten,
rief die Person, die sie analysierten, irgendwann aus »Ich habe mit meinem Vater geschlafen!«, und alle konnten zufrieden
nach Hause gehen. Sie wusste auch, dass bei Malcolm das Gegenteil zutraf. Wenn Annie lange genug wartete, beendete er sein
eigenes Schweigen damit, dass er etwas Dummes sagte, und dann stritten sie sich. Manchmal stritten sie sich geschlagene fünfzig
Minuten, wodurch wenigstens die Zeit schnell verflog. Malcolms Bemerkungen konnten Annie nicht irritieren, solange es ihr
gelang, deren absolute Blödheit zu ignorieren.
»Wissen Sie, es ist schon komisch mit Ihrer Generation.«
Annie musste sich beherrschen, um sich nicht in Erwartung der altmodisch-spießigen Provokation, die normalerweise auf solch
eine Einleitung folgte, die Lippen zu lecken.
»Was denn, Malcolm?«
»Nun, viele Menschen, die ich kenne, führen eineunglückliche oder frustrierende Ehe. Oder eine langweilige.«
»Und?«
»Sie sind trotzdem eigentlich ganz zufrieden.«
»Sie sind glücklich in ihrem Elend.«
»Sie haben sich damit arrangiert, ja.«
Annie fand, dass Malcolm noch nie zuvor die Absurdität seiner beruflichen Ambitionen so gut auf den Punkt gebracht hatte.
Sein Alter und seine geografische und soziale Herkunft machten ihn zu dem Typ Engländer, der einfach glaubte, dass kein Los
so bitter wäre, dass man es nicht ertragen könnte. Zu klagen hieß, Schwäche zu zeigen, und so wurden die Dinge immer verfahrener
und die Menschen immer stoischer. Aber psychologische Beratung funktionierte nun mal nicht, ohne dass sich jemand beklagte.
Darum drehte es sich doch: Unzufriedenheit und Kränkungen zur Sprache zu bringen, und zu hoffen, dass man etwas dagegen tun
könnte. Annie musste lachen.
»Was hab ich denn jetzt schon wieder gesagt?«, fragte Malcolm entnervt.
Der Tonfall erinnerte Annie an ihre Mutter. Die hatte es auch so gesagt, wenn Annie ihr über den Mund gefahren war, weil sie
Blödsinn von sich gab wie, dass die IRA Menschen ermordet oder ein Kind seinen Vater braucht – eigentlich recht banale Fakten,
denen man kaum widersprechen konnte, wie Annie heute begriff, die jedoch in dem seltsamen politischen Klima der 80er-Jahre
wie faschistische Hetzreden klangen.
»Finden Sie wirklich, dass dieser Beruf das Richtige für Sie ist?«
»Wieso denn nicht?«
»Nun, weil der Grund, aus dem ich zu Ihnen komme, doch wohl der ist, dass ich mich mit meinerunglücklichen, langweiligen und frustrierenden Beziehung nicht abfinden möchte. Ich will mehr. Und Sie finden, ich bin eine
Heulsuse. Wahrscheinlich halten Sie irgendwann jeden, der ihnen gegenübersitzt, für eine Heulsuse.«
Malcolm starrte konzentriert auf den Teppich, wo dieses Problem offenbar irgendwie gelandet war.
»Also«, meinte er, »ich weiß nicht, ob es wirklich darum geht.«
»Worum sonst? Wenn es das nicht ist?«
»Sie sagten, Sie wollen nicht nur ›halbwegs zufrieden‹ sein.«
»Ja. Mit-Einem-Öden-Drecksleben.« Sie sprach es aus, als sei er schwerhörig, was natürlich durchaus sein konnte. Sie ließ
sich einen Moment von der Überlegung ablenken, ob nicht doch Schwerhörigkeit für den unbefriedigenden Verlauf ihrer Sitzungen
mitverantwortlich war. Wenn Malcolm nicht zu hören schien, was sie sagte, hörte er es dann tatsächlich nicht?
»Es kommt auf den Kontext an.«
»Aber Menschen, die halbwegs zufrieden sind, haben kein ödes Drecksleben.«
Annie öffnete den Mund, bereit, den flapsigen Konter abzufeuern, der ihr immer einfiel, wenn Malcolm irgendeine Bemerkung
machte, doch diesmal kam nichts. Ihr Mund war
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