Juliet, Naked
Bild durch den Cyberspace wanderte. Niemand stellte sich je die Frage,
wie ein Mann, der 1986 soundso ausgesehen hatte, 2003 so aussehen konnte. Gut, Haare konnten wachsen, verfilzen und ergrauen. Aber konnten Nasen so leicht ihre Form verändern? Konnten
Augen näher aneinanderrücken, Münder breiter, Lippen dünner werden? Andererseits wurde das Foto nie von Leuten benutzt, die
es vielleicht auf seine Echtheit überprüft hätten; Tucker war schon längst vom Mainstream weg in die toten Flussarme gedriftet,
wo nur die Spinner und Verschwörungstheoretiker ihre Angeln auswarfen. Und die Frage nach der Plausibilität ging ohnehin am
Thema vorbei. Die paar Leute, die ihn nicht vergessen hatten, die seine Songs zu Hymnen verklärt hatten, die weise Ratschläge
zu praktisch allem beinhalteten, wollten , dass er wie Farmer John aussah. Tucker war für diese Leute ein Genie, das verrückt geworden war; und so sahen verrückte
Genies nun mal aus. Und Johns Auftritt als Wüterich passte auch perfekt. Neil Ritchie hatte sicher noch andere Fotos, die
John zeigten, wie er gemütlich auf den Wagens zuschlenderte, aber sie passten eben nicht zu der Vorstellung von jemandem,
der wie besessen seine Privatsphäre verteidigte. Der Moment, in dem John durchdrehte, war der Moment, in dem er zu Tucker
Crowe, dem irren Einsiedler, wurde.Tucker der Echte hingegen, der, der Jackson zu Little-League-Spielen fuhr, hielt sein Haar immer sauber gestutzt, trug eine
halbwegs modische randlose Brille und rasierte sich täglich. Innen drin fühlte er sich wie Fucker, gerade deswegen achtete
er stets darauf, nach außen wie jemand zu wirken, dem man bereitwillig eine Versicherung abkaufen würde.
So wurde Farmer John jedenfalls für Tucker und Cat (und Jackson) und noch ein paar weitere Freunde und Nachbarn zum falschen
Tucker und aus dem Falschen Tucker wurde unvermeidlicherweise irgendwann Fucker. Und wenn Tucker mal aus dem Haus und wieder
unter Leute musste, dann nahm er Fucker mit – nicht, weil die Verwechslung ihm irgendwie zupass kam, sondern weil er ansonsten
gar keine Männer mehr kannte. Ein solcher Abend mit Fucker war immer ein bisschen kompliziert. Tucker durfte nicht trinken,
und Fucker vertrug nichts. Und auch wenn Tucker zusehen konnte, wie jemand langsam und kultiviert Alkohol zu sich nahm, war
es doch etwas anderes, mitansehen zu müssen, wie sich jemand volllaufen ließ. Daher lief der Deal so: Fucker bekam eine Stunde
vorher Bescheid, so dass er sich schon ein paar Kannen Bush Mills reinstellen und vorglühen konnte. Wenn Tucker ihn dann abholte,
brauchte er nur noch einen Kleinen obendrauf und war dann schon bald bereit für den Kaffee.
Fucker wollte sich eine Band ansehen, die in einer Kneipe in der Nähe spielte.
»Warum?«
»Weil es Spaß machen könnte.«
»O Mann«, sagte Tucker. »Muss das sein?«
»Du trinkst nicht, du willst dir keine Band anhören … Wieso fragst du mich überhaupt, ob ich mit dir abends weggehe? Wie wär’s
damit: Du willst mich sehen, alsotreffen wir uns zum Frühstück. Aber wahrscheinlich hast du auch was gegen Eier. Oder du hast sie dir damals in den Achtzigern
durch die Nase gezogen und kannst deswegen jetzt nicht mal ertragen, mit ihnen in einem Raum sein.«
»Ich glaube, ich brauche jemanden zum Reden.«
»Wieso? Hast du das mit Cat vor die Wand gefahren.«
»Genau.«
»Wow. Wer hätte das gedacht?«
Tucker mochte Johns unverhohlenen Sarkasmus. Er war erfrischend, so wie diese Schwämme, die Cat so mochte, mit denen man tote
Hautschuppen entfernt.
»Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht sollten wir uns eine Band ansehen. Dann muss ich wenigstens nicht dir zuhören.«
»Ich hab alles gesagt, was ich zu sagen habe. Abgesehen davon, dass du ein Idiot bist. Wie geht’s denn Jackson?«
»Der ist okay. Er ist eigentlich auch nicht überrascht. Er wollte nur sicher sein, dass er bei mir bleiben und weiterhin im
Haus wohnen kann.«
»Und geht das?«
»Anscheinend ja. Cat sucht sich eine Wohnung in der Stadt, wo Jackson dann auch mal schlafen kann, wenn er möchte.«
»Du hast Cat also auch noch um ihr Haus gebracht.«
»Vorerst.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Entweder fange ich an, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, oder Jackson wird achtzehn und geht auf die Uni.«
»Kann man darauf wetten, was zuerst passiert?«
»Vielleicht bringt mir ja Juliet, Naked ein bisschen Geld ein.«
»Ach ja, stimmt. Ich hatte ganz
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