Juliet, Naked
geschockt, als er in den Spiegel schaute und sah, dass er keinerlei
Farbe im Gesicht hatte. Es sei denn, Weiß zählte auch zu den Farben, was immerhin möglich war, wenn es so intensiv war wie
bei ihm. Er war sich nahezu sicher, eine Grippe, eine Lungenentzündung oder so was zu bekommen, und verfluchte sein Timing:
Vierundzwanzig Stunden später wäre er zu krank gewesen, um zu verreisen. Er hätte zu Hause bleiben können, ohne das Gesicht
zu verlieren, ohne der schlechteste Vater der Welt zu sein.
Sie standen in der Schlange vor dem Sicherheitscheck, eine Prozedur, die extra dazu erfunden zu sein schien, Jacksons Morbidität
Vorschub zu leisten. Tucker erklärte ihm, dass sie nach Waffen suchten.
»Nach Waffen?«
»Manchmal nehmen böse Menschen Waffen mit ins Flugzeug, weil sie die reichen Leute ausrauben wollen. Aber wir sind nicht reich,
deswegen werden sie uns in Ruhe lassen.«
»Woher wissen sie, dass wir nicht reich sind?«
»Reiche Leute tragen lächerliche Armbanduhren und duften. Wir habe gar keine Uhren und stinken.«
»Aber warum müssen wir unsere Schuhe ausziehen?«
»Da könnte man kleine Waffen drin verstecken. Man läuft dann komisch, aber es ist möglich.«
Eine alte englische Dame, die vor ihnen anstand, drehte sich um.
»Die suchen nicht nach Schusswaffen, junger Mann, sondern nach Bomben. Es überrascht mich, dass dein Vater noch nichts von
dem Schuhbomber gehört hat. Das war ein Engländer, musst du wissen. Ich meine, ein Moslem natürlich, aber aus England.«
Daddy hat von dem Schuhbomber gehört, besten Dank, du neugierige alte Spinatwachtel, hätte Tucker am liebsten gesagt. Und
jetzt guck wieder nach vorne und halt den Rand.
»Schuhbomber?«, fragte Jackson.
Tucker sah gleich, dass sie, sollten sie es nach London schaffen, nicht wieder zurückkommen würden. Jedenfalls nicht mit dem
Flugzeug. Mark würde zwei Tickets für ein Kreuzfahrtschiff spendieren müssen, es sei denn, Jackson erfuhr vorher von der Titanic.
In diesem Fall würde Mark für ein exklusives englisches Internat zahlen müssen, und Jackson würde mit dieser vornehmen Internatssprache
aufwachsen.
»Ja. Er hat versucht, ein Flugzeug in die Luft zu sprengen und hat den Sprengstoff in seinen Schuhen versteckt. Stell dir
das mal vor. Ich nehme an, man braucht gar nicht viel. Nur gerade so viel, um ein kleines Loch ins Flugzeug zu sprengen. Und
dann FFFFFFUPP, werden wir alle rausgesaugt und landen mitten im Ozean!«
Jackson blickte zu Tucker auf. Tucker schnitt ein Gesicht, das sagen sollte, die Frau ist ja plemplem.
»Ich bin ja beinahe dankbar, dass ich nicht mehr so lange zu leben habe«, sagte die alte Dame. »Ich habeden Weltkrieg mitgemacht, aber ich hab das Gefühl, auf dich wartet weit Schlimmeres als der Blitz , wenn du groß bist.«
Sie traten durch den Scan und winkten der Frau zum Abschied fröhlich zu. Und dann tischte Tucker Jackson einfallsreiche und
groteske Lügen auf, damit sie das Flugzeug betreten könnten. Tucker musste Jackson sogar weismachen, dass die alte Dame schon
bei ihrem eigenen baldigen Tode falsch liege, und erst recht bei allen anderen Todesfällen, von denen sie gesprochen hatte.
Tucker wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal geflogen war. Am Tag, an dem er die Musik hingeschmissen hatte, war er
betrunken, wütend und voller Selbstekel von Minneapolis nach New York geflogen. Er hatte eine Stewardess angemacht und eine
Frau, die ihn davon abbringen wollte, dass er eine Stewardess anmachte, von daher war dieser Flug einer, der Erinnerungswert
hatte. Damals war er felsenfest davon überzeugt gewesen, diese Stewardess sei die Lösung all seiner Probleme. Seiner Einschätzung
nach würden sie zwar nicht lange zusammenbleiben, aber dafür würde es jede Menge therapeutisch wertvolle Ficks geben. Und
weil sie Stewardess war und viel unterwegs wäre, könnte er während ihrer Abwesenheit neue Stücke schreiben und vielleicht
dort, wo sie wohnte, in ein Studio gehen und seine Karriere neu aufbauen. Doch das alles war für sie nicht erkennbar, als
er ihr Avancen machte. Für sie sah es so aus, als würde er ihren Arsch betatschen, dabei ging es um viel mehr, wie er ihr
weinend und mit immenser Lautstärke zu verstehen geben wollte. Er liebte sie.
Herrje. Er hatte Glück gehabt, dass sie so verständnisvoll gewesen war. Er hätte sich auch in New Jerseyvor einem Richter wiederfinden können. Stattdessen hatte er eine andere Frau
Weitere Kostenlose Bücher