Juliet, Naked
strauchelte.
Wie sich herausstellte, gehörte er zu den Moralisten, die das Verhalten anderer so empörte, weil sie solche Angst vor den
eigenen Schwächen hatten: Je mehr er sich in hysterische Missbilligung steigerte, desto schwieriger wurde es für ihn, einer
Versuchung zu erliegen, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Er hatte zweifellos recht gehabt mit seinen Befürchtungen.
Als er Julie Beatty kennenlernte, stellte er fest, dass an ihm außer Schwäche kaum etwas dran war.
Als er morgens aufwachte, hatte Tucker Crowe keine Vorstellung davon, dass er sich von seinem alten Leben trennen würde, aber
hätte er es gewusst, hätte es ihn nicht weiter gestört, denn es hing ihm zum Hals raus. Wenn man ihn gefragt hätte, was das
Problem sei … Tja, hätten Sie ihn gefragt, hätte er gar nichts gesagt, weil er Wert darauf legte, zu jeder Zeit lakonisch,
kryptisch und ein wenig sarkastisch zu wirken, weil es so einfach cooler war. Wer sind Sie überhaupt, Tucker Crowe Fragen
zu stellen? Irgendein beschissener Rockjournalist? Oder noch schlimmer – ein Fan? Aber hätte er sich selbst gefragt – was
er manchmal tat, wenn er nicht gerade betrunken war oder schlief – hätte er sich (ganz exklusiv) sagen können, was ihn am
meisten ärgerte, und zwar jeden Tag aufs Neue: die unausweichliche und bedauerliche Erkenntnis, dass Juliet , das Album, mit dem er gerade tourte, absolut unauthentisch, vollkommenverlogen, melodramatisch und rundum Scheiße war und ihn ankotzte.
Das hätte nicht unbedingt zum Problem für ihn werden müssen. Bands tourten alle naselang mit einem Produkt, das sie nicht
besonders mochten, und es war anzunehmen, dass es Schauspielern und Schriftstellern nicht anders erging: Irgendwas muss ja
deine schlechteste Leistung sein. Aber bei Juliet lag die Sache anders, weil es wohl die einzige Platte von Tucker war, die beim Publikum ankam. Sie hatte sich noch nicht
sensationell verkauft, aber in den letzten Monaten waren leicht zu beeindruckende College-Kids, die noch nie etwas gehört
oder gelesen hatten, aus dem wahrer Schmerz sprach, und schon gar nicht selbst etwas Ähnliches empfunden hatten, zu Hunderten
bei den Konzerten aufgetaucht. Und sie konnten jedes Wort von jedem Song mitsingen. Sie schluckten Tuckers ominöse, selbstgerechte,
weinerliche Wut so bereitwillig, als bedeute sie ihnen etwas, und er konnte es nur ertragen, indem er die Augen schloss und
irgendeinen Punkt nicht weit über ihren Köpfen ansang. (Dieser Abwehrmechanismus hatte unweigerlich dazu geführt, dass irgendwer
in einer Rezension schrieb, er sei »noch immer in seinem Schmerz gefangen«.) Es war nicht so, dass er die Songs ganz und gar
gehaltlos fand. Musikalisch waren sie ziemlich gut, und er und die Band hatten sie mittlerweile auch besser drauf; an den
meisten Abenden brachten sie den Laden ganz schön zum Kochen. ›You and your perfect life‹, mit dem er jeden Abend das Konzert
beendete, war jetzt ihr Meisterstück, und im Mittelteil des Songs, direkt vor dem Gitarrensolo, hatte Tucker angefangen, Fragmente
anderer berühmter Lovesongs aus früheren Zeiten einzubauen: ›When something is wrong with my baby‹ aneinem Abend, an einem anderen ›I’d Rather Go Blind‹. Manchmal ließ er sich beim Singen auf ein Knie nieder, manchmal stand
das Publikum auf, manchmal fühlte er sich wie ein waschechter Entertainer, jemand, der extravagante emotionale Gesten vollbringt,
um Menschen beim Fühlen zu helfen. Und der Text von ›You And Your Perfect Life‹ war auch gar nicht so mies, obwohl er von
ihm stammte. Er hatte Julies Zurückweisung in ein paar verdammt schicke Klamotten gesteckt, fand er.
Nein, das Problem lag bei Julie Beatty selbst. Sie war eine Idiotin, ein Hohlkopf, ein oberflächliches, eitles und uninteressantes
Model, das zufällig unglaublich hübsch war, und das war Tucker aufgefallen, kurz nachdem eine Sammlung von Hymnen an ihre
Rätselhaftigkeit und Größe einem offenbar ergriffenen Publikum präsentiert worden war. Als sie das Album zum ersten Mal hörte,
war sie von Tuckers Elend so bewegt, dass sie prompt zum zweiten Mal ihren Ehemann verließ – der arme Kerl musste da schon
einen steifen Nacken haben, so oft, wie er seine Frau mit einem Koffer die Treppe hatte rauf- und runterrennen sehen – und
bot sich Tucker dar wie ein knallbunt verpacktes Geschenk. Nachdem er sich drei Tage mit ihr zusammen in einem Hotelzimmer
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