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Juliet, Naked

Juliet, Naked

Titel: Juliet, Naked Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Hornby
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entschuldigen
     – nicht weil er sich krank fühlte, sondern für alle Lügen, die er erzählt hatte. »Tut mir leid, mein Sohn«, wollte er sagen.
     »Dieser Quatsch, dass Leute nicht sterben – das war gelogen. Leute sterben andauernd. Gewöhn dich dran.«
    Er ging so cool und sicher wie möglich zur Anmeldung.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau. Er sah sein Spiegelbild in ihren Brillengläsern. Er versuchte, durch das Glas hindurch
     in ihre Augen zu sehen.
    »Das hoffe ich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich einen Herzinfarkt habe.«
     
    Es gibt alle möglichen Ereignisse, deren Schockwellen sich über ganze Kontinente hinweg erstrecken:Flutkatastrophen und Hungersnöte, Revolutionen, große internationale Sportturniere. In diesem Fall war der Auslöser die plötzliche
     Erkrankung eines Mannes mittleren Alters. Telefone klingelten in Wohnungen und Häusern in den USA und Europa, und attraktive,
     immer noch ihre Figur haltende Frauen um die dreißig, vierzig oder Anfang fünfzig nahmen die Anrufe entgegen. Dann schlug
     man die Hände vor den Mund, tätigte weitere Telefonate, behutsame, leise Stimmen sagten beruhigende Dinge. Es wurden Flüge
     gebucht, Pässe wiedergefunden, Verabredungen abgesagt. Die Frauen und Kinder von Tucker Crowe waren auf dem Weg zu ihm.
    Es war alles Lizzies Idee gewesen. Im wirklichen Leben war sie eine sentimentale junge Frau, die sich häufig von kleinen Haustieren,
     von Kindern und Liebeskomödien zu Tränen rühren ließ. Das Leben mit Tucker war jedoch kein richtiges Leben, nicht zuletzt,
     weil es so kurz war, und die Zeit, die sie mit ihm hatte, wurde immer überschattet von der Zeit, die sie nie mit ihm gehabt
     hatte. Wie sollte es auch anders sein? Es war kein fairer Kampf. Schon sein Anblick und der Klang seiner Stimme machte sie
     schrill und reizbar: Sie hasste es, wie ihre Stimme gleich eine Oktave höher klang, wenn sie miteinander redeten. Aber als
     sie ihn in seinem Zimmer im Krankenhaus besuchte, schlief er, sediert und hilflos, und sie konnte nicht mehr zornig sein.
     Solange er so dalag, konnte sie eine gehorsame und liebevolle Tochter sein. Wenn er aufwachte, wollte sie ihn mit derselben
     Stimme ansprechen, mit der sie Menschen ansprach, die sie liebte.
    Man hatte ihr gesagt, dass er nicht sterben würde, aber das war gar nicht der Punkt: Sie musste die Gelegenheit beim Schopfe
     packen. Wenn sie schon mehr Wohlwollen für Tucker empfand, als sie je hatte aufbringenkönnen, würde es den anderen doch sicher auch so gehen? Und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass so was wie ein
     Familientreffen, ein Versuch, die bislang in alle Winde verstreute Familie zusammenzuführen, in seinem Sinne wäre. Es war
     nicht ihre Schuld, dass sie ihn so gar nicht kannte.

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    12. Juni 1986, Minneapolis
    In den Anfängen seiner Karriere war Tucker hinter Skandalstorys über Musiker hergewesen, als wären es Sammelkarten. Sie faszinierten
     ihn nicht, weil er es den betreffenden Musikern nachtun wollte, sondern weil er Moralist war und die Storys derart haarsträubend
     fand, dass sie ihm als brauchbares Navigationsinstrument dienten – in seinem Betätigungsfeld war es nicht schwer, sich einen
     Ruf als hochanständiger Mensch zu verdienen. Solange man ein Mädchen nicht aus dem Fenster schubste, nachdem man mit ihr fertig
     war, galt man als Gandhi. Er hatte sich sogar ein, zwei Mal in Streitigkeiten eingemischt, um selbstgerecht die Ehre von Mädchen,
     Roadies oder Motelportiers zu verteidigen. Als er irgendwann mal dem unausstehlichen Bassisten einer Indieband, die bald darauf
     Stadien füllte, eine verpasste, fragte der ihn, wer zum Teufel gestorben wäre und ihn zum König ernannt hätte. Die Frage war
     rein rhetorisch gemeint, aber sie brachte ihn doch zum Nachdenken. Warum konnte er diese jungen Männer nicht einfach so sein
     lassen, wie junge Männer nun mal waren? Seit der Erfindung der Laute waren Musiker Arschlöcher, was also glaubte er zu erreichen,
     wenn er ihnen, wenn sie betrunken waren, einen Schubs vor die Brust gab? Eine Zeit lang schob er es auf die Romane,die er las, dann wieder auf die Grundanständigkeit seiner Eltern, und er schob es auf seinen Bruder, der es geschafft hatte,
     sich umzubringen, indem er betrunken vor eine Mauer fuhr. Bücher, Eltern und ein tragischer Loser von Bruder waren ein solides
     ethisches Fundament, fand er. Heute wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis er ebenfalls

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