Juliet, Naked
versteckt hatte, war ihm überdeutlich klar geworden, dass er selbst mit einem sechzehnjährigen texanischen Cheerleader mehr
Gemeinsamkeiten hatte. Sie las nicht, sie redete nicht, sie dachte nicht, und sie war das eitelste menschliche Wesen, dem
er je begegnet war. Was hatte er sich dabei gedacht? Er war betrunken gewesen, als er sie kennenlernte, und dann kam die ganze
dramatische Heimlichtuerei, die Tuckers Erfahrung nach die Intensität immer um ein paar Grad erhöht; aber es war nicht nur
das gewesen. Er hatte in ihrer Welt leben wollen. Er wollte die Leute kennen, diesie kannte; er hatte das Recht , bei Faye Dunaway zum Dinner eingeladen zu werden. Das war man ihm schuldig. Er hatte das Talent, aber nicht den Lifestyle,
der mit diesem Talent einhergehen sollte, wie er fand. Mit anderen Worten: Er hatte sich wie ein Arschloch benommen, und Juliet würde ihn für immer an seine Scham und Schande erinnern.
Der zwölfte Juni war ein Tag wie jeder andere. Sie waren von St. Louis nach Minneapolis gefahren, und er hatte im Van geschlafen,
ein bisschen gelesen, sich auf seinem Walkman die Smiths angehört und die ekelerregenden Cheez-Doodle-Fürze der Rhythm Section
eingeatmet. Sie hatten den Soundcheck gemacht, gegessen, und Tucker hatte die Flasche Wein fast leer, die er eigentlich unter
keinen Umständen vor der Show anrühren wollte. Er hatte seine Band beleidigt – sich über die Unkenntnis seines Drummers bezüglich
des Tagesgeschehens mokiert, die persönliche Hygiene seines Bassisten in Zweifel gezogen – und sich auf penetrante Art an
die Frau des Veranstalters herangemacht. Nach der Show hatte dann irgendwer vorgeschlagen, sich irgendeine Band in irgendeinem
Club anzusehen, und Tucker war mittlerweile betrunken und wollte weitertrinken, und außerdem hatte er Gutes über die Band
gehört.
Er stand allein an der Theke, sah mit zusammengekniffenen Augen zur Bühne und versuchte sich zu erinnern, wer ihm gesagt hatte,
diese Loser seien den Spaziergang um neun Häuserblocks wert. Und dann war er nicht mehr allein. Ein großer, langhaariger Kerl
in einem ärmellosen T-Shirt über Oberarmen, die aussahen wie die Schenkel eines Wrestlers, hatte sich zu ihm gesellt. Mit
dem Typ werde ich keinen Streit anfangen, sagte sich Tucker aus keinem besonderen Grund außerdem, dass im Verlauf des letzten Jahres, seit er durstiger geworden war, aus keinem besonderen Grund schon oft Grund genug für einen Streit gewesen war. Der Typ lehnte sich neben ihn an die Wand, machte Tucker also nach, doch
Tucker ignorierte ihn.
Da lehnte sich der Typ zu ihm rüber und brüllte ihm durch den Lärm ins Ohr: »Kann ich mit dir reden?«
Tucker zuckte nur mit den Achseln.
»Ich bin ein Freund von Lisa. Jerry. Ich bin der Roadmanager von den Napoleon Solos.«
Tucker zuckte noch einmal die Achseln, obwohl er einen kleinen Anflug von Panik spürte. Lisa war das Mädchen, mit dem er zusammen
gewesen war, als er Juliet kennenlernte. Lisa war mies behandelt worden. Er würde sogar so weit gehen, ins Aktiv zu wechseln:
Er hatte Lisa mies behandelt. Er hatte noch nicht mal aufgehört, mit ihr zu schlafen, während er hinter Julie Beatty her war,
hauptsächlich deshalb, weil das ein Gespräch erforderlich gemacht hätte, zu dem er nicht bereit war. Irgendwann hatte er sich
einfach nicht mehr blicken lassen. Er wollte nicht mit Freunden von Lisa reden.
»Willst du gar nicht wissen, wie’s ihr geht?«
Er zuckte zum dritten Mal mit den Achseln.
»Ich hab das Gefühl, du wirst es mir sagen, ob ich will oder nicht.«
»Fick dich«, sagte der Typ.
»Fick dich selber.« Ihm war plötzlich wieder eingefallen, dass es Lisa gewesen war, die die Band empfohlen hatte, und er spürte
ein gewisses Bedauern. Er wäre wahrscheinlich nicht mit ihr alt geworden, aber wenigstens hätte diese Beziehung keine permanente
und öffentliche Schande für ihn nach sich gezogen. (Oh, aber es fiel schwer, an solche Dinge zu denken. Was wäre aus seiner
Musik geworden, wenn er Juliet niekennengelernt hätte? Er hätte nie geglaubt, dass ein Album wie Juliet in ihm steckte, und Lisa hätte es nie aus ihm herausgeholt. Wenn er bei Lisa geblieben wäre, wäre er sich heute wahrscheinlich
sympathischer, aber es würde immer noch keiner von ihm Notiz nehmen. Und weil immer noch niemand Notiz von ihm nähme, würde
er sich hassen. Ach ja.)
Der Typ hatte sich von der Wand abgestoßen und wollte weggehen.
»Tut mir leid«,
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