Julischatten
offen im Vorratsregal ihrer Eltern gestanden, genauso wie die Himbeermarmelade und die eingelegten Gurken. Ihre Eltern hatten nicht bemerkt, dass Sim die Flasche immer wieder mit Wasser auffüllte – bis ein befreundeter Kollege ihres Vaters mit seiner Frau zu Besuch kam und ihr Vater vorschlug, gemeinsam einen Tequila zu trinken. Die Frau des Kollegen hatte Sim gerade in ein Gespräch über Ausländerfeindlichkeit verwickelt, deshalb konnte sie sich nicht einfach verdrücken, als die Katastrophe unabwendbar wurde.
Nachdem sie alle ihr Salz geleckt, das Leitungswasser geschluckt und in die Limette gebissen hatten, herrschte sekundenlang tödliche Stille und Sim dachte, sie müsse auf der Stelle sterben. Dann sah der Freund ihres Vaters sie an, seiner Kiefermuskeln begannen zu zucken und er brach in schallendes Gelächter aus. Seine Frau stimmte mit ein und schließlich auch ihre Eltern – deren Lachen allerdings eher wie ein Zähneknirschen klang. Obwohl Sim mit allem Möglichen, nur nicht damit gerechnet hatte, wäre sie am liebsten in einem Mauseloch verschwunden, so furchtbar schämte sie sich.
Das Ganze wurde als Witz des Abends verbucht und hatte kein Nachspiel. Aufgrund dessen wurde Sim mutiger und ließ beim nächsten Mal gleich die ganze Flasche verschwinden. Doch selbst das fiel ihren Eltern nicht auf.
Michael goss Sim Wasser in ihr Weinglas und prostete ihr und ihrer Tante zu. Die Gläser klirrten leise, als sie anstießen, und der Wein roch gut. Sim kostete den betretenen Ausdruck im Gesicht ihrer Tante noch einen Moment aus, dann machte sie sich über die Spaghetti mit den Shrimps her, die wider Erwarten großartig schmeckten.
Michael Holzbauer stammte aus Weimar, hatte Journalistik studiert und einige Jahre als Kulturredakteur für die Thüringer Landeszeitung gearbeitet, bevor er zu reisen begann. Mittlerweile schrieb er Auslandsreportagen für den Spiegel . Er war nie verheiratet gewesen, hatte aber eine Tochter, die selber schon Mutter war. Sein Enkelsohn hieß Paul und kam bald in die Schule.
Michael war einer dieser schrecklich sympathischen Typen, die einen unerschöpflichen Vorrat an Verständnis zu haben schienen und schon allein deshalb mit Vorsicht zu genießen waren.
Während sie aßen, erzählte er von den Menschen, denen er auf seiner Fahrt durch die Black Hills begegnet war und die ihm aus ihrem Leben berichtet hatten. Skurril, lustig, aber auch traurig, die Geschichten, die der Journalist mitgebracht hatte, hatten alle etwas ganz Besonderes.
Im Laufe des Abends wurde Sim klar, dass Michael Holzapfel kein normaler Gast war – dafür gingen er und Jo viel zu vertraut miteinander um. Hatte ihre Tante etwas mit ihm? Wenn ja, dann war das bestimmt kein Nachteil für sie, denn Jo hätte auch noch anderes im Kopf, als die Babysitterin für ihre Nichte zu spielen.
Als Sim schon fast die Augen zufielen, wünschte sie den beiden eine gute Nacht und ging schlafen. Zwei Stunden später wurde sie wach, weil sie ihre Tage so heftig hatte, dass sie ins Bad musste, um den Tampon zu wechseln. Sie wollte gerade wieder in ihr Zimmer zurückgehen, da hörte sie leise Stimmen und flüsterndes Gelächter aus dem Schlafzimmer ihrer Tante.
Nun war die Sache sonnenklar: Michael und ihre Tante hatten Sex. Sie hatten Spaß. Spaß beim Sex. Sim beneidete sie darum. Besonders um den Spaß. Würde sie dieses Land jemals betreten?
Tränen füllten ihre Augen und sie rieb sie mit einer zornigen Handbewegung weg. Sobald sie auch nur an Sex dachte, war schlagartig alles wieder da und der immer gleiche Film lief ab. Das Gefühl der Demütigung verursachte ihr Übelkeit und Herzrasen. Wie ferngesteuert ging sie zum Kühlschrank und öffnete ihn. Die Rotweinflasche stand in der Tür. Michael hatte sie in seiner Ahnungslosigkeit dort hineingestellt und ihre Tante war zu sehr mit ihm beschäftigt gewesen, als dass sie daran gedacht hätte, sie vor Sim zu verstecken.
Sim lauschte. Aus dem Zimmer ihrer Tante kam ein rhythmisches Knarren, dann ein unterdrücktes Stöhnen. Sie griff nach der Flasche, zog den Korken heraus, setzte an und trank.
7. Kapitel
Nach dem gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen fuhren Michael und Jo nach Pine Ridge, um sich mit Matteo Lone Elk, einem jungen Officer, zu treffen, der sich bereit erklärt hatte, Michael etwas über den Kampf der Stammespolizei gegen Jugendgangs und Drogenkriminalität im Reservat zu erzählen. Zurzeit arbeitete Michael an einer größeren Reportage über
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