Julischatten
aus Deutschland vor. Lukas sagte »Hi«. Er stand verloren da – jetzt, wo Sim seine Hand losgelassen hatte.
»Warst du schon mal hier drin?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Sie fasste ihn am Arm, und während ihre Tante Smalltalk betrieb, nahm sie ihn auf einen Rundgang mit. Die Wandgemälde und die eingerahmten Zeitungsausschnitte hinter Glas erzählten vom Massaker am Wounded Knee im Dezember 1890, von der Belagerung des Ortes durch die amerikanische Armee im Frühjahr 1973, von AIM, dem American Indian Movement, und von Leonard Peltier, dem politischen Häftling, der seit fünfunddreißig Jahren im Gefängnis saß, weil er zwei FBI-Beamte getötet haben sollte.
All diese Dinge waren Sim nicht völlig fremd, aber ihre Vorkenntnisse bedurften einer Auffrischung und Lukas war bestens geeignet dafür, wie sie schon nach kurzer Zeit feststellen konnte. Geduldig beantwortete er ihre Fragen, schien sich jedoch unwohl zu fühlen in diesem merkwürdigen Schrein der Ungerechtigkeiten.
Eine blonde Frau in Birkenstocksandalen und einem knielangen, sackähnlichen Sommerkleid betrat den düsteren Raum, grüßte und begann, sich umzusehen. Schließlich betrachtete sie die Schmuckstücke der beiden Lakota und das obligatorische »Where are you from?« fiel.
»Germany«, antwortete sie, »Berlin.«
Der Indianer erkundigte sich, ob sie eine Unterkunft bräuchte, und als die Deutsche nickte, verwies er sie gleich an Jo. Die beiden Frauen begannen eine angeregte Unterhaltung in deutscher Sprache.
»Können wir rausgehen?«, fragte Lukas.
Sie verließen das Gebäude und Sim bemerkte, wie er tief durchatmete.
Es war ein sonnendurchglühter Nachmittag, die Grillen zirpten um die Wette und ein leichter Wind strich durch die Gräser.
»Warst du schon mal oben auf dem Friedhof?«, fragte Lukas.
»Nein. Ich bin zum ersten Mal hier. Das letzte Mal, als wir vorbeikamen, war meine Tante der Meinung, ich wäre nicht respektvoll genug gekleidet, um auf einen Friedhof zu gehen.«
Ein Lächeln huschte über Lukas’ Gesicht. »Ich wette, den Toten ist das egal.« Er streckte seine Hand in ihre Richtung. »Kommst du?«
Sim nahm seine Hand und alles schien wieder normal zu sein zwischen ihnen. Sie stiegen die Anhöhe hinauf zu den beiden weiß gestrichenen Backsteinpfeilern, die durch einen Gitterbogen mit einem weißen Kreuz darauf verbunden waren. Das steinerne Tor war der Eingang zum Friedhof. Ein paar Schritte weiter, in einem von einem Maschendrahtzaun begrenzten Karree, stand auf einem Betonsockel ein verwitterter Obelisk, ein Grabstein für die Toten von 1890. Bunte Stoffstreifen in den Farben der vier Himmelsrichtungen Schwarz, Rot, Weiß und Gelb, perlenbestickte Lederfiguren und winzige Tabakbeutelchen waren in die Maschen des Zauns geknüpft. Die bunten Bänder bewegten sich matt im warmen Wind.
Sim spürte ein Kribbeln im Nacken, als die aufgeladene Atmosphäre von Wounded Knee sie umfing. Die Luft knisterte wie kurz vor einem Gewitter, aber am Himmel standen nur ein paar harmlose weiße Sommerwolken.
Sie umrundete das Karree, um die Namen der Toten zu entziffern, als sie bemerkte, wie Lukas’ Finger sich in die Maschen des Zaunes hakten und er seine Stirn gegen den Draht drückte. Er hatte die Lider geschlossen. Es sah aus, als wäre ihm schwindelig, als müsse er sich festhalten, um nicht zu fallen. Besorgt trat sie zu ihm. Trotz der brütenden Hitze überzog Gänsehaut seine nackten Arme. Ein paar Haarsträhnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, klebten an seinen feuchten Schläfen.
»Was ist denn los?«, fragte sie und berührte ihn am Arm. »Ist dir schlecht? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.«
»Ich kann sie sehen und hören«, flüsterte Lukas.
»Wen?« Sim drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Außer ihnen war niemand auf dem Friedhof.
»Ihre Geister«, stieß Lukas hervor. »Das Massaker… die vielen Toten… Männer, Frauen, Kinder. Wir stehen auf ihrem Grab und etwas von ihnen ist noch hier, in den Gräsern, im Wind. Ich kann die Schüsse der Soldaten hören, die Schreie der Getroffenen, das Knirschen des Schnees, wenn wieder einer fällt.« Seine Kiefermuskeln zuckten und seine Hände klammerten sich so fest an den Draht, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er hob den Kopf und wandte ihr das Gesicht zu, richtete seine blicklosen Augen auf sie.
»Manchmal höre ich Stimmen aus der Vergangenheit, sehe Menschen, die vor uns gelebt haben«, sagte er nach einigem Zögern.
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