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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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ist passiert mit deiner Lippe?«, fragte er. »Hattest du einen Unfall?«
    »Nein, es ist… ich bin mit einer Spalte in der Oberlippe geboren und sie ist genäht worden, als ich ein Baby war. Angeblich haben sich die Ärzte alle Mühe gegeben, trotzdem ist die Narbe hässlich.« Wieder hörte er diesen rauen Ton in ihrer Stimme und bekam eine Ahnung davon, dass mehr auf ihrer Seele lastete als diese Narbe, an die sie ja gewöhnt sein musste.
    »Das empfindest du so, aber anderen muss es ja nicht genauso gehen.«
    »Ich weiß ziemlich genau, wie es den anderen geht«, sagte sie. »Nach meiner Schwester drehen sich die Jungen um, weil sie schön ist. Mich nennen sie die Monster-Schwester.«
    Er musste lächeln. »Es ist bloß eine Narbe.«
    »Na ja«, meinte sie, »du kannst sie nicht sehen, also kannst du das auch nicht beurteilen.«
    »Ich könnte.« Er streckte ihr seine Hand entgegen.
    Aber Sim nahm sie und drückte sie auf den Tisch zurück. »Lieber nicht.«
    »Okay.«
    Okay? Ihre Brust durfte er berühren, hier, in aller Öffentlichkeit, mitten in Big Bat’s, aber ihre Lippe nicht. Lukas begriff die Welt nicht mehr. Und woran er bei Sim war, das wusste er immer noch nicht.
    Jo kam zurück und es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem nassen Fleck im Schritt seiner Hose an den anderen Gästen vorbeizugehen. Er hatte seine Hand auf Jos Schulter gelegt (mit ihr klappte das Laufen auf diese Weise) und sich halb hinter ihr versteckt. Jemand kicherte – mit Sicherheit über ihn. Lukas straffte seine Schultern und war heilfroh, als er endlich im Silverado saß und nicht mehr den Blicken der Leute ausgesetzt war.
    Als sie auf der Heimfahrt am Hügel von Wounded Knee auf die Straße nach Manderson bogen, schien Tante Jo eine Art Eingebung zu haben. Sie lenkte den Silverado auf den Parkplatz vor einen runden, dunkelbraun angestrichenen Zementblock. Zwei Reihen großer Punkte, gelb und blau, liefen von einer weißen Linie getrennt um das Gebäude, das von den Einheimischen Thunder Lightning Teepee genannt wurde.
    »Das wolltest du doch sehen«, sagte sie. »Also, hier sind wir.«
    »Ich bin nicht passend gekleidet«, bemerkte Sim spitz, als sie ausstiegen.
    »Damit musst du selber klarkommen«, erwiderte ihre Tante gelassen.
    Erwachsene waren nun mal schwer zu durchschauen.
    Als Sim diesmal nach Lukas’ Hand griff, um ihn zu führen, spürte sie die Kluft der Verlegenheit zwischen ihnen. Sie wusste selbst nicht, was im Big Bat’s in sie gefahren war, als sie so spontan reagiert hatte. So frech und selbstbewusst war sie überhaupt nicht, trotzdem hatte sie es getan und damit etwas in ihrem Verhältnis zu Lukas verändert, das sie bisher als rein freundschaftlich empfunden hatte.
    Hatte er sich womöglich in sie verliebt? Aber in was verliebte sich eigentlich ein Blinder? In eine Stimme? Einen Geruch? Eine Vorstellung?
    Erst jetzt, als sie das nervöse Zucken in seinen Fingern spürte, wurde ihr bewusst, dass sie mit Lukas in den letzten Tagen mehr Körperkontakt gehabt hatte als mit jedem anderen Menschen im vergangenen Jahr. Es hatte ihr nichts ausgemacht, seine Hand zu halten, sich von ihm umarmen zu lassen oder ihn im Rücken zu haben, als sie auf Ghost geritten waren. Weil er ein Freund war. Weil sie sich sicher fühlte in seiner Gegenwart und ihr Magen nicht zu flattern begann, wie das in Jimis Nähe (dieser Blödmann) der Fall war.
    Aber nun fragte sie sich, ob Lukas nicht anders empfand als sie und sie ihm Hoffnungen gemacht hatte mit ihrer verrückten Beweisführung. Die – das gestand sie sich jetzt ein – mit Sicherheit auch nicht so ausgefallen wäre, wenn Lukas sein Augenlicht noch hätte. So viel zum Thema Selbstbewusstsein.
    Im Schlepptau ihrer Tante betraten sie das Halbdunkel des Betonbaus. Es gab nur zwei winzige Fenster mit schmutzigen Scheiben im Raum und die beiden Sechzig-Watt-Birnen, die im Abstand von ein paar Metern von der Decke hingen, konnten das fehlende Tageslicht nicht ersetzen.
    Die Wände waren bemalt mit verschiedenen Szenen aus der Vergangenheit der Lakota und die grimmigen Gesichter großer Männer starrten sie von oben herab an. Der Raum hatte die Atmosphäre einer Grabkammer, daran änderte auch der Geruch nach verbranntem Süßgras nichts.
    Vier Holztische standen nebeneinander. Hinter einem davon saßen ein Mann und eine Frau, die auf einem roten Tuch indianischen Schmuck vor sich ausgebreitet hatten. Jo begrüßte die beiden mit Namen und stellte ihnen Sim als ihre Nichte

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