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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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»Es ist…«, er brach den Satz ab und wie zur Entschuldigung hob er die Schultern.
    ». . . unheimlich?«, ergänzte Sim trocken.
    »Ja, manchmal schon.«
    Lukas erzählte ihr von Sitting Bulls Gefährten, die sich nach seinem gewaltsamen Tod in North Dakota auf den Weg in den Süden zu Red Clouds Agentur in Pine Ridge gemacht hatten. Unterwegs war der kranke Häuptling Big Foot mit seinen Leuten zu ihnen gestoßen.
    »Es waren an die dreihundert Männer, Frauen und Kinder, sie froren bitterlich und waren hungrig. In den Badlands stießen sie auf die Soldaten der amerikanischen Armee, die am Wounded Knee Creek lagerten. Big Foot ließ seine Leute die weiße Flagge hissen. Aber die Soldaten hatten ein Fass Whiskey getrunken und wollten Rache für ihre Toten am Little Bighorn. Als unsere Männer ihre Waffen abgaben, kam es zu einem Zwischenfall, bei dem sich ein Schuss löste. Da eröffneten die Soldaten das Feuer.«
    Lukas’ Stimme bebte, als er Sim das Gemetzel schilderte. Wie die Menschen zu fliehen versuchten und die Soldaten sie rücksichtslos niederschossen. No way to run, nowhere to hide, no chance for a fight. Die Liedzeile von Medusa’s Child ging Sim durch den Kopf. So many died – under the blood red sky.
    »Wer nicht gleich durch die Kugeln der Soldaten starb«, fuhr Lukas fort, »der erfror danach in der eisigen Kälte, denn niemand kümmerte sich um die Verwundeten. Vier Tage nach dem Massaker, als sie die steif gefrorenen Toten einsammelten, haben sie ein kleines Mädchen gefunden. Es hatte unter dem Körper seiner Mutter die eisigen Nächte überlebt.«
    »Lost Bird«, flüsterte Sim.
    Lukas hob erstaunt den Kopf.
    »Ich habe von diesem Mädchen gelesen«, erklärte sie ihm. »Sie ist von der Familie eines weißen Soldaten adoptiert worden, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte er, »das stimmt.«
    Lukas’ Schilderungen waren sehr lebendig, doch mit seiner Offenbarung, Menschen sehen zu können, die nicht mehr existierten, kam Sim nur schwer klar. Sie glaubte einfach nicht, dass am helllichten Tag Geister über die Hügel irrten. Wahrscheinlich hatte Lukas, weil er blind war, die Gabe einer besonderen Vorstellungskraft. Und was die Einzelheiten seiner Schilderung betraf: Mit Sicherheit war das Massaker am Wounded Knee Teil des Unterrichts für jedes Indianerkind, genauso wie an deutschen Schulen die Reichskristallnacht durchgenommen wurde.
    »Es ist mehr als hundert Jahre her«, fuhr er fort, »aber die Leute können es einfach nicht vergessen, weil die Toten hier herumgeistern und sie immer wieder an den schrecklichen Tag erinnern, als die Welt, die sie kannten, für immer begraben wurde.«
    Zu ihrer Erleichterung klang seine Stimme wieder ganz normal und er schien zurück im Hier und Jetzt zu sein. »Du meinst, du bist nicht der Einzige, der… der sie sieht?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    Irgendwie war sie erleichtert, das zu hören, auch wenn es nicht minder verrückt klang als die Tatsache selbst.
    Als ob er ihre Gedanken lesen konnte, fragte er: »Denkst du, dass ich verrückt bin, weil ich die Stimmen von Leuten höre, die nicht mehr da sind?«
    »Nein«, sagte sie. »Aber was ist mit dir? Glaubst du, dass du verrückt bist?
    »Nein«, erwiderte er kopfschüttelnd. Und beließ es dabei.
    Sie brachten Lukas nach Hause und Sim sah zum ersten Mal den alten Trailer mit der kleinen überdachten Veranda, in dem er mit Jimi und den beiden Mädchen hauste. Eine alte Autorückbank war gegen die Wand gelehnt und diente als Sitzbank. Ihr Blick streifte über die Autoreifen, die das Dach hielten, über das Trampolin vor dem Haus, den Müll, der überall herumlag, und das achtlos fallen gelassene Plastikspielzeug.
    Sie sah die Traumfänger, die von der Veranda hingen, den bleichen Pferdeschädel an einem der Holzpfosten, die das windschiefe Vordach stützten. In ein paar Metern Entfernung stand das von Präsident Clinton gesponserte Doppelhaus und der Weg dorthin war gepflastert mit platt gefahrenen Getränkedosen.
    »Danke fürs Bringen«, sagte Lukas. Er öffnete die Beifahrertür, um auszusteigen.
    »Du kannst Jimi ausrichten, dass die Klimaanlage unbedingt noch eingebaut werden muss«, sagte Jo. »Am Sonntag kommen meine Gäste.«
    »Mach ich«, sagte er. »Das wird schon klargehen.« Er schlug die Tür zu, schob die Hände in die Hosentaschen und trat ein paar Schritte vom Auto weg. Jo wendete und fuhr zurück auf die Hauptstraße.
    Sim war enttäuscht. »Ich hätte gerne gesehen, wie er wohnt.«
    »Besser

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