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Jung, blond, tot: Roman

Jung, blond, tot: Roman

Titel: Jung, blond, tot: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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viel Babyspeck, ihre Augen wanderten bei jedem Wort rastlos durch den Raum. Sie traute sich nicht mehr unter Menschen, hatte seit einem Jahr kein Kaufhaus mehr betreten, mied belebte Straßen wie die Pest, verbrachte die meiste Zeit zu Hause. Aber Patanec war sicher, ihr Problem in den Griff zu bekommen, denn sie war ein williges Medium bei Hypnosesitzungen (schon beim allerersten Mal war es Patanec gelungen, sie in Tief schlaf zu versetzen), und er rechnete mit etwa fünf bis maximal zehn solcher Sitzungen, bis sich erste greifbare Erfolge einstellen würden. Heute würde er es nicht tun, nur zuhören, was sie erlebt hatte. Ihre Geschichte hatte anfangs wie eine typische Kindergeschichte geklungen, doch nach und nach schälte sich eine Wahrheit heraus, die eigentlich ein Fall für die Polizei war, doch Patanec war clever genug, dies seinzulassen, denn das Mädchen war beileibe kein Einzelfall, und die Polizei einzuschalten hätte bedeutet, das Vertrauen der wichtig 124 sten Klientel zu verlieren. Wenn sich bewahrheitete, was das Mädchen erzählte, dann war sie seit ihrem sechsten Lebensjahr sexuell mißbraucht worden, ohne daß die Mutter davon wußte (zumindest glaubte das Mädchen, ihre Mutter wisse nichts), die sie hergeschickt hatte. Wer genau für den Mißbrauch verantwortlich war, hatte Patanec noch nicht in Erfahrung bringen können. Der Vater, der Großvater, aber auch jemand aus der näheren Verwandtschaft kam in Betracht. Er mochte diese Fälle nicht, sie gehörten zu den unangenehmen Seiten seines Berufs. Die Sitzung war um zwölf beendet, das Mädchen reichte Patanec artig, aber kraftlos die Hand. Er wusch sich die Hände, wie immer nach einer Sitzung, benetzte sein Gesicht mit Feuchtigkeit. Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte wieder einmal keine Abkühlung gebracht, der Himmel war bedeckt, ein warmer Wind von Süden schien dem Sommer sogar neuen Auftrieb zu geben. Er ging ans Fenster, goß seine Pflanzen, danach hatte er vor, für zwei Stunden zu Enrico, seinem Stammrestaurant, zu fahren und in Ruhe zu Mittag zu essen. Er hörte nicht, wie die Tür aufging, er spürte es am Luftzug in seinem Rücken. Susanne Tomlin. Streng zurückgekämmtes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar, ein knapp über dem Knie endender brauner Rock, eine weiße, hochgeschlossene Bluse und darüber ein bis zu den Knöcheln reichender, beiger Sommermantel mit auffälligen Zierknöpfen, der vorne offenstand, waren heute ihre äußerlichen Attribute. Sie blickte Patanec entschuldigend an. »Darf ich reinkommen?« fragte sie. »Sie sind doch schon drin«, sagte Patanec, goß die Yuccapalme neben seinem Schreibtisch, stellte die Messingkanne auf das Fensterbrett und ging auf Susanne Tomlin zu, half ihr aus dem Mantel, hängte ihn an die Garderobe. »Was führt Sie zu mir?« »Darf ich mich setzen?« »Bitte, es steht Ihnen frei.« Sie setzte sich diesmal nicht auf die Couch, sondern in den Sessel vor dem Schreibtisch, die Arme auf die Lehnen gestützt. Sie strahlte heute pure Melancholie aus. »Jetzt bin ich hier und weiß nicht einmal genau, was ich sagen will. Ich hatte mir so viel zurechtgelegt, und jetzt ist mein Kopf plötzlich leer. Und ich raube Ihnen die Mittagspause.« Patanec nahm in seinem Sessel Platz. »Das tun Sie nicht«, beruhigte er sie, die Arme aufgestützt, die Hände gefaltet. »Wie war Ihr Wochenende? Hat es Probleme gegeben?« »Das Wochenende, das Wochenende! Es war kein Wochenende, es war ein Alptraum. Deswegen bin ich eigentlich hier. Wenn ich nur wüßte, wie ich es in Worte fassen soll!«
Es trat eine Pause ein, eine dieser typischen Pausen, die Patanec von Susanne Tomlin, dieser hinreißenden Frau mit der mystischen Aura, hinlänglich kannte. Dann fuhr sie fort, den Blick zu Boden gerichtet: »Es geht um Daniel und um mich. Ich habe ihn nur gestern für vielleicht zehn Minuten zu Gesicht bekommen. Er war den ganzen Samstag weg, wir haben keine fünf Sätze miteinander gewechselt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es noch weitergehen soll. Warum sind wir verheiratet, wenn wir uns doch nichts mehr zu sagen haben? Er schläft sogar kaum noch im Schlafzimmer, in letzter Zeit übernachtet er immer öfter im Gästezimmer. Und noch etwas möchte ich sagen -Daniel hat sich verändert. Den Daniel, den ich geheiratet habe, den Daniel gibt es nicht mehr. In letzter Zeit wacht er nachts oft schweißgebadet auf, er schreit dann, als hätte er fürchterliche Angst, doch ich kann nie verstehen, was er sagt,

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