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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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die Leute auf den Bahnsteig, sie warten nicht ab, bis du herausgeklettert bist mit deinem Gepäck. Sie stürmen gleichzeitig auf die Tür zu, wollen als Erste ins Abteil und schubsen dich zurück. Sie sind ignorant.
    Hinter dem Wort DUMMHEIT malte er ein Fragezeichen. Sind die Leute dumm?
    Sie wollen schnell hinein, versprechen sich einen Vorteil, einen guten Platz. Also sind sie nicht völlig bekloppt. Andererseits haben viele von ihnen wahrscheinlich eine Platzkarte – wozu da drängeln? Also sind sie doch unterbelichtet. Vor allem lassen sie mich und andere nicht raus, folglich kommt es zum Chaos und zur Gegendrängelei.
    Jenissej strich die DUMMHEIT.
    Ignoranz ist bewusst in Kauf genommene Blödheit. Ich ignoriere, dass ich es besser wissen könnte, will es aber gar nicht wissen. Ich will auch nicht wissen, dass ich andere dabei wegschubse und verletze. Warum nicht? Weil es mir wichtiger scheint, nur meine Interessen zu verfolgen.
    Es juckte ihn, nicht allein in den Fingern, sich das Beispiel mit der Massendrängelei am Bahnhof auszumalen, es zu skizzieren, auszubauen, in Szene zu denken.
    Das Computertriptychon erinnerte ihn daran, dass Melpomene-Melina ihm nicht nur die Idee von der Ignoranz implantiert hatte, sondern auch die Sorge um Lena.
    Die Übersetzung der Datei war zuletzt sehr schnell gegangen. Der Sprung von 17 auf 100   Prozent war möglicherweise geglückt, denn in dem Dateisymbol erkannte Jenissej zum ersten Mal wieder das kleine Kamera-Symbol, das er für das Format
F3L
entworfen hatte.
    Ohne nachzudenken, klickte er es an und drückte F7 – eine Taste, die mindestens so deutliche Abnutzungserscheinungen aufwies wie die Buchstabentasten E und N.   Mit der einprogrammierten Funktion 7 wurde eine Datei fünfzehnfach kopiert und in dafür getrennte, aber miteinander vernetzte Ordner verfrachtet. Jenissej pflegte mit seinen Dateien vielfache Variationen durchzuspielen, und mit dem fünfzehnfachen Kopieren hatte er ausreichend Spielmaterial; jede Version blieb automatisch gespeichert und konnte später wieder aufgegriffen oder zu anderen gemixt werden.
    Kurz überlegte er, dass das Kopieren einer Datei, die sich vielleicht wieder nicht öffnen ließ, wenig sinnvoll war. Aber ein neues Bildfenster erschien. Die Steuerungselemente für den Filmstart und den Schnitt waren milchig belegt und nicht aktivierbar.
    Jenissej strich mit den Fingerkuppen über den Bildschirm. Glatte, matte Oberfläche mit einigen Staubkörnchen – es roch nach Rosinen. Sofort war da das unbestimmte Gefühl, vor einem Portal, das in die Kindheit führte, zu stehen. Er lehnte sich zurück und überlegte.
    Der Rosinen-Effekt war gewollt. Er verschaffte ihm ein gutes Gefühl, so wie andere Menschen zur Zigarette greifen oder zu grünem Tee. Erst als junger Erwachsener hatte er begriffen, was da vorging. Eine Freundin kannte sich aus und klärte ihn auf. Anders als andere Synästhetiker verband Jenissej nicht mit Tönen bestimmte Farbempfindungen.Stattdessen löste die Berührung mancher Gegenstände in ihm das Gefühl aus, Gerüche wahrzunehmen.
    Als Kind war er verwirrt, weil jede Banane, die er in die Hand nahm, faulig roch, auch wenn sie gelb war und sogar, wenn sie noch hellgrüne Spuren hatte. In einer Spielzeugkiste vermutete er jahrelang verstecktes Marzipan, auch wenn ihm irgendwann klar war, dass es kein Versteck für Marzipan darin geben konnte. Fragte er Freunde oder seine Mutter, so konnten sie keinen der Gerüche bestätigen. Er gab es bald auf, ihnen davon zu erzählen.
    Eine Zeit lang meinte er, das Anfassen von Oberflächen würde frühe Kindheitserinnerungen in ihm auslösen. Mit denen kämen die Gerüche, die ebenfalls etwas mit der Kindheit zu tun haben müssten. Aber meist gab es für die so entstandenen Konstrukte keine logische Erklärung.
    Erst später erklärte man ihm, dass es sich umgekehrt verhielt: Manche Berührungsempfindungen lösten automatisch Geruchsempfinden aus. Niemand konnte ihm erklären, warum das so war. Die Bilder aus der Kindheit kamen aber immer dann dazu, wenn ein Geruch ihn an etwas Wichtiges erinnerte. Er las, dass Gerüche am besten geeignet seien, verschollene Erinnerungen im eigenen Gehirn zu aktivieren. Auch dafür gab es wohl keine eindeutige wissenschaftliche Erklärung. Man konnte lesen, dass alle Menschen vor der Geburt Synästhetiker seien. Vielleicht aber auch nicht – niemand hatte Kinder vor der Geburt interviewt oder in Talkshows eingeladen.
    Das Rosinenaroma

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