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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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umzukehren.
    »Wir stehen das heute durch«, sagte die Frau und streichelte den Ärmel ihres Mannes.
     
    Fogh atmete auf, als sie endlich im Konferenzraum angekommen waren und er die Tür schließen konnte.
    »Wo ist er denn nun?«, fragte der Vater.
    Elke Bahr hörte in sich ein kleines belustigtes Schnauben. Sie hoffte, dass es nicht lauter gewesen war, und räusperte sich. »Jan ist natürlich nicht mehr bei uns. Wenn ein Patient die Augen geschlossen hat, entlassen wir ihn aus unserer Obhut. Wir möchten Ihnen anhand einiger Daten und Darstellungen zeigen, was sich zugetragen hat.«
    »Die Augen geschlossen!«, wiederholte Herbert Sikorski ungehalten.
    »Herbert! – Ich muss allerdings sagen   … Ich dachte auch, wir sollten unseren Sohn identifizieren. Wo können wir ihn denn sehen?«
    »Das   … finde ich heraus. Wenn Sie nachher gehen, gebe ich Ihnen die Adresse.«
    Fogh sah sie strafend an.
    Elke Bahr griff nach der Fernbedienung, und sofort erschien an der Stirnseite des Konferenzraums eine projizierte Landkarte. Das Elternpaar setzte sich.
    »Ich habe Ihnen hier einmal einen Plan der Region südliches Graubünden herausgesucht.« Ein roter Leuchtpunkt wackelte über die Schweizer Berge. »Das ist das Engadin, und zu Ihrer Orientierung: Hier verläuft die Grenze zu Italien. Diese Spitze hier unten, auf Schweizer Seite, das ist das Puschlav-Tal. Das kleine Städtchen im Auslauf des Tals heißt Poschiavo. Die Jugendgruppe war dort in einer spanischen Villa untergebracht. Wenn sie sich fragen: Weshalb spanisch? Einige Einwohner von Poschiavo gingen vor langer Zeit nach Südeuropa und machten dort ihr Geld mit Zuckerbäckerei. Dann kamen sie reich zurück und bauten das spanische Viertel mit stattlichen Häusern.« Elke Bahr lächelte, sah die Mienen des Vaters und der Mutter und räusperte sich erneut. Noch nie hatte sie zu den Eltern eines toten Kindes sprechen müssen.
    Die Sikorskis schwiegen und starrten an die Wand.
    »Von Poschiavo geht eine Schmalspurbahn in die Berge hinauf«, sagte Elke Bahr. »Auf dieser kurzen Strecke von hier bis zum Weißen See überwinden die Züge einen Kilometer Höhenunterschied. Sie können sich vorstellen, dass die Fahrt spektakulär ist. Die Gleise schlängeln sich hin und her, die Kinder haben Spaß dabei.« Wieder dieses Kratzen im Hals.
    Sie schaltete auf ein anderes Bild. Ein See mit hellem Wasser, umgeben von Bergen. »Das ist der Lago Bianco. Er liegt auf einer Höhe von über 2000   Metern über dem Meeresspiegel. Das war das Ziel der Gruppe an diesem Vormittag. Mit Jan waren es elf Jugendliche und eine Betreuerin. Sie   … «
    »Und ohne ihn waren es zehn«, spie der Vater aus.
    Elke Bahr wartete einen Moment. »Der Tagesausflug sollte am See entlangführen und über eine Schleife zum Bahnhof
Alp Grüm
. Mit dem Zug sind das nur wenige Minuten, aber zu Fuß, wenn Sie wandern und kleine Aufgaben haben, kann es zwei Stunden dauern.«
    Das nächste Foto zeigte einen steinigen Wanderweg.
    »Im Sommer ist die Strecke meist gut begehbar. Sie sehen den Weg, wie er von der Begleiterin fotografiert wurde. Neben dem Wanderweg gluckst Schmelzwasser, aber ansonsten ist er trocken und mit festen Schuhen gut zu passieren. Allerdings kommt auch schon mal so etwas vor   … «
    An der Wand gab es eine Überblendung zu einem Gletscherausläufer.
    »Auch das ist eine Aufnahme vom 7.   Juni. In dieser Jahreszeit sind die Wege bis zur Baumgrenze und darüber größtenteils ohne Schnee und ohne Eis. Aber an dieser Stelle ragt noch eine Eiszunge von oben herab und bildet ein Hindernis.« Wieder eine Karte. »Die Gruppe stand genau an dieserStelle. Die festgebackene Schneemasse gehört zu einem gletscherartigen Gebilde, das sich von dort oben bis etwa da unten gezogen hat. An der massivsten Stelle war der Wanderweg mit einer etwa zwei Meter dicken weißen Schicht überzogen. Auf der kann man eigentlich gut laufen. Sie wissen, dass die Jugendlichen für alle Fälle Nordic-Walking-Stöcke dabei haben, die eistauglich sind. Am See gibt es mehr Eis, da durften sie auch herumstochern.«
    Der Vater schloss für einen Moment die Augen und schien sich anzustrengen, die Beherrschung nicht zu verlieren.
    »An dieser bewussten Stelle hatte die Gruppe die Entscheidung, den ganzen Weg von etwa einer Stunde zurückzulaufen und einen neuen Anlauf Richtung Alp Grüm zu unternehmen – oder das dreißig Meter lange, übergletscherte Stück zu überwinden. Die Gruppe entschied sich einstimmig

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