Jung genug zu sterben
für die Kletterei. – Leider.«
Fogh klinkte sich ein: »Die Entscheidung an sich war richtig. Die Gefahr kalkulierbar. Es liegt nicht in unserer Zuständigkeit, und ich will niemanden vorschnell entlasten. Aber das Schlimmste, was an diesem Grat allenfalls hätte passieren dürfen, wäre der Rutsch zwanzig Meter bergab. Danach geht es zwar einen halben Kilometer tief, aber dazwischen befindet sich eine Mulde, ein Vorsprung, in dem sich Geröll sammelt. Kannst du das Foto zeigen?«, forderte er Elke Bahr auf.
Tatsächlich sah man schwarzes Geröll. Nichtssagend. Schnee drum herum.
»Was ist passiert?«, fragte Herbert Sikorski.
Elke Bahr holte Luft. »Acht der Jungen und Mädchen waren vorgegangen. Die Begleiterin ließ sie in Zweier- oder Dreiergruppen laufen und wollte warten und Ruhe ausstrahlen, bis alle drüben waren. Auch Jan war dafür, denschwierigen Pfad zu nehmen. Die Jugendlichen haben uns berichtet, dass er kaum den ersten Fuß in den Schnee gesetzt hatte, als er anfing zu zucken. Eines der Mädchen wollte ihn halten, aber er rutschte hinab, zu dem Geröll hinunter. Die Begleiterin hat korrekt gehandelt: Sie hat alle Jugendlichen aufgefordert, genau da stehen zu bleiben, wo sie waren. Die zwei auf dem Schnee sollten zurückgehen. Dann hat sie sich vorsichtig auf dem Hintern hinunterrutschen lassen. Aber das Problem waren Jans epileptische Anfälle. Er hatte sich aufrichten können. Die Kinder … berichten, dass er eine unheimliche Weile stand und zitterte. Erst dann brach er zusammen, trat wohl auf einen dieser Geröllsteine, stürzte darüber und fiel weiter hinunter. An dieser Stelle ist es zu steil, um jemandem zu Hilfe zu kommen. Die Gruppe benutzte ihre Handys, und Jan wurde von der Bergwacht geborgen, mit Hilfe eines Helikopters. – Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Einzelheiten nicht ersparen kann. Aber alle Fachleute sagen uns, es ist wichtig, dass Sie wissen, was sich genau zugetragen hat.«
Herbert Sikorski winkte ab.
»Konnte man denn gar nichts mehr für unseren Sohn tun?«, fragte Margot Sikorski.
Fogh übernahm: »Jan wurde nach Samedan geflogen, in das Spital Oberengadin. Damit er sich nicht selbst weiter verletzt, wurde ihm ein Antiepileptkum gegeben, und zwar, wie wir jetzt wissen, bereits während des Transports in das Krankenhaus. Die Kollegen nahmen eine Notoperation vor, weil ihre Diagnose auf verletzte Organe hinwies. Tatsächlich hatte Jan einen Milzriss. Eine Arterie im Magenbereich war lädiert, außerdem war die Lunge beeinträchtigt. Angesichts der Schwere des Unfalls waren das Routineeingriffe. Um Ihrem Sohn die Schmerzen zu nehmen und seinen Zustand zustabilisieren, setzte man ihn in ein sogenanntes künstliches Koma.«
Die Mutter seufzte.
Elke Bahr sagte: »Auch das ist üblich und für sich genommen kein Problem.«
Fogh nickte. »Die Kollegen in Samedan zerbrachen sich allerdings … Sie machten sich Sorgen, aus zwei Gründen: Zum einen konnten sie angesichts der Röntgenaufnahmen eine innere Kopfverletzung nicht ausschließen. Zum anderen stellten sie sich die Frage, ob das künstliche Koma mit der Epilepsie Ihres Sohnes vereinbar war. Man entschied, ihn am nächsten Tag nach Zürich in das Universitätsklinikum zu überstellen.«
»Warum nicht nach Deutschland?«, fragte der Vater.
»Doktor Brogli ist eine Kapazität«, sagte Fogh. »Es ging darum, optimale Versorgung mit einem kurzen Transportweg zu kombinieren. Brogli hat die neueste Technik. Nicht ganz unser Stand, aber doch beachtlich.«
»Trotzdem hat alles nichts geholfen.«
»Nein, Herr Sikorski. Doktor Brogli setzte sich umgehend mit unserem Institut in Verbindung. Denn Jan hatte seinen Epilepsie-Ausweis dabei, und darin standen Hinweise für die spezielle Behandlung. Was die Erste Hilfe im Engadin nicht wissen konnte, war, dass Jan an einer Unverträglichkeit gegenüber bestimmten Antiepileptika-Medikamenten litt. Doktor Brogli setzte sich mit unserem Professor Lascheter in Verbindung.«
»Das ist der, der ihn behandelt hat?«, knurrte Sikorski.
»Richtig. Professor Lascheter sagte ihm jede Unterstützung zu. Er war bereit, sofort nach Zürich zu fliegen, um Jan zu helfen. Allerdings konnten die Ärzte schon Minuten später nur noch Jans Tod feststellen.«
Elke Bahr lächelte. »Er lag ja im Koma. Das heißt, er ist eingeschlafen, ohne noch etwas von all dem mitzubekommen.«
Die Mutter weinte.
Der Vater war ein Klotz.
»Herr Professor Lascheter hat die Untersuchung übernommen«,
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