Jung genug zu sterben
der Zeit und gründete hier in Berlin-Gatow eine Zweigstelle, die bald die neue Zentrale wurde. Seit 2006 kooperiert das
Institut
Zucker
mit der Ihnen allen gut bekannten Organisation PALAU, hier gleich nebenan. Seit dieser Zeit ist die Pubertät einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte bei uns.«
Zucker dankte artig. »Eines, nicht wahr, liebe Frau, ähm, Frau Bahr … Also, was man nicht außer Acht lassen darf, ist Folgendes: Ich habe mit dem Forschungsschwerpunkt Multiple Sklerose angefangen, nicht wahr, das hat mich sozusagen gelenkt und geleitet. Sie wissen, dass der Mangel an Myelin eines der Kernprobleme bei Multipler Sklerose ist. Myelin ist immer noch mein altes Steckenpferd, wenngleich … «
Fogh schüttelte den Kopf.
»Ja, aber gut, was ich sagen wollte, bevor ich unterbrochen wurde … « Zucker lächelte. » … so charmant von dem Fräulein Bahr, nicht wahr – ähm … Also, Dopamin. Was hat es damit auf sich? – Dopamin ist, sagen wir mal, vereinfacht gesagt, ein Hormon, das unser Gefühl für Glück steuert. Also, wenn ich eine schöne Blume sehe, zum Beispiel. Oder wenn ich einen Walzer tanze, ja? Sagen wir, mit dem bezaubernden Fräulein Bahr, nicht? Dopamin löst das Gefühl aus. Ich bin glücklich. In der, äh, Pubertät nun passiert Folgendes: Der Dopaminspiegel fällt dramatisch ab. Derselbe Jugendliche, der eben noch zufrieden war, einen Sonntagnachmittag mit seinen Eltern verbringen zu können, langweilt sich in der selben Situation plötzlich zu Tode. Die Eltern haben nichts falsch, nichts anders gemacht, nichtwahr? Der Junge eigentlich auch nicht. Aber der Nachmittagsspaziergang und das gemeinsame Kaffeetrinken bringen jetzt einfach zu wenig Schub an Dopamin. Also, nicht wahr, weniger Glücksgefühl. Der Junge erlebt es als etwas, das er Langeweile nennt, nicht wahr?«
Ein, zwei Gesichter im Audimax lächelten, schon aus Solidarität. Fogh nicht.
»Das ist des Rätsels Lösung für die angebliche Lustlosigkeit unserer Jugendlichen. Gleichzeitig suchen sie den sogenannten Kick. Was sie dabei unbewusst medizinisch – oder sagen wir physiologisch – anstreben, ist, dass der geringe Pegel an Dopamin sich wieder so weit erhöht, dass sie quasi Glück empfinden. Weil aber so wenig Dopamin vorhanden ist, müssen sie nach immer aufregenderen Situationen suchen: Sie rasen mit dem Moped, ohne Helm, sie rauchen verbotene Substanzen, sie legen sich mit Halbstarken an … Verstehen Sie? Die Pubertierenden machen etwas, das ganz und gar von ihrem Hormonspiegel gesteuert wird: Sie suchen nach demselben Glück wie Sie und ich. Aber sie brauchen mehr Gefahr und mehr Risiko, um das zu erreichen, als Sie und ich viel leichter bekommen. Verstehen Sie? Wir haben also verträgliche Präparate entwickelt, die den Hormonspiegel auf ein gutes Level bringen. – Manche sagen nun: Professor Zucker, das ist Teufelszeug. Aber ich sage Ihnen: Erhöhen Sie den Dopaminspiegel des Pubertierenden, und er wird aufhören, auf dem Mofa dem Tod hinterherzujagen. Oder sich mit dem Taschenmesser Wunden zuzufügen, um überhaupt noch etwas zu spüren.«
Rachesch griff das überraschend auf. »Vielen Dank, Herr Direktor Zucker, für diesen sehr wesentlichen Gesichtspunkt! Der Dopaminmangel ist auch einer der Gründe, weshalb Neuntklässler von ihrer Schule so gelangweilt sind.Gleichzeitig suchen sie – Herr Professor Zucker hat es erwähnt – die Gefahr. Sie wollen das Abenteuer, die körperliche und mentale Herausforderung. Und da reicht Hormontherapie allein eben nicht aus, sie ist meines Erachtens nur die
ultima ratio
. Wir müssen echte Abenteuer bieten, aber auch echte Verantwortung. Deshalb bin ich so froh über die enge Zusammenarbeit mit einem Projekt wie dem PALAU. Dieser Name ist bekanntlich eine Abkürzung, und die ist programmatisch:
Pädagogische Angebote: Leben – Abenteuer
– Unterstützung
. Deshalb an dieser Stelle noch einmal: Danke an alle, die beim PALAU mitmachen. Manche sehen das ja schon als eine richtige Ehe an:
Zucker
und PALAU – und arbeiten konsequent in beiden Einrichtungen. Ich glaube, nein, ich weiß: Das ist die Zukunft.«
Bevor jemand applaudieren konnte, griff sich ein Mann das Mikrofon von Elke Bahr: »Mir wurde vor dieser Veranstaltung gesagt, man darf hier Fragen stellen. Ich frage Sie nun: Steht das PALAU nicht vor dem finanziellen Ruin? Ich meine: eine Sozialeinrichtung, die über 80 Hektar Grundstück einnimmt, wie will die sich überhaupt
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