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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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Also hat’s geklappt. In der Stadt muss man grell sein, um nicht aufzufallen. Also, wohin gehen wir?«
    Melina schleuste sie beide über ein Nottreppenhaus und einen Lieferantengang. Da sie Kameras noch nie mochte, hatte sie ein Gespür dafür entwickelt, wo sie hingen und sie beobachteten. Jetzt musste sie dem Ausschlussprinzip folgen. Dabei kam ein Zickzackkurs heraus, aber das war ihr egal.
    Marmor oder Granit gab es auf diesem Schleichweg nicht, bestenfalls Sichtbeton. Türen mit Laborschildern. Ein schmales Band aus Glasbausteinen in etwa zwei Metern Höhe zwischen dem Gang und diesen Räumen.
    »Hier werden also Menschen gezüchtet«, stellte Jenissej tonlos fest.
    »Nein«, sagte Melina. »Hier sind die Kleintiere untergebracht.«
    »Flöhe, Wanzen, Stechmücken?«
    »Ja«, sagte sie und lief voran.
    Ein Pfeifen.
    Melina blieb stehen. Jenissej konnte nicht rechtzeitig bremsen, aber er war wendig, also schlängelte er sich um sie herum und blieb vor ihr stehen. »Was ist?«
    »Ein Pfiff«, sagte sie. »War wohl nichts. Aber ich dachte erst   … « Sie ging weiter.
    »Männer können nicht gleichzeitig laufen und hören«, sagte er.
    »Das stimmt nicht«, sagte sie und öffnete ihnen die nächste Tür, die schwer war und aus Stahl. »Männer hören sogar besser. Oder sagen wir: Sie können ein spezifisches Geräusch aus Lärmkulissen besser heraushören und die Richtung treffsicherer bestimmen als Frauen.«
    »Aha. Untersucht euer komisches Institut solche Dinge?«
    »Durchaus. Der Test stammt nicht von uns, aber wir haben ihn rekonstruiert und verfeinert. Wenn man im Labor Geräusche von allen Seiten auf eine Testperson einspielt und sie bittet, eines davon zu lokalisieren, zeigen Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit in die richtige Richtung als Frauen.«
    Jenissej hielt nun ihr eine Tür auf. »Ich dachte, Frauen sind in komplexen Situationen besser.«
    »Wahrscheinlich ist es ein Relikt aus der Zeit, in der die Männer auf die Jagd gingen. Hunderttausende von Jahren mussten sie in der Wildnis hören, wo ein Beutetier sich bewegte – und wo ihnen ein Raubtier auflauerte. Das mussten Frauen nicht. Dieses Training hat sich in den alten Hirnarealen festgebrannt. Heute nennt man das den Cocktailparty-Effekt.«
    »Faszinierend«, sagte er und befasste sich einige Meter damit. Dann änderte er die Stimmlage. »Ich folge dir blind überallhin, Melpomene, aber ich bin neugierig. Warum bin ich hier? Wohin gehen wir? Hast du Lena gefunden?«
     
    In drei Ecken des Raumes standen Stechpalmen, in der vierten eine schwarze Liege. Drei schwarze Sessel, einander zugewandt. Kein Fenster. Dafür eine LE D-Decke mit Tageslichtimitat. Gleich zwei Großbildfernseher an der Wand.
    »Das ist Lenas Arbeitsplatz?«
    Melina musste grinsen. »Sie hat keinen Arbeitsplatz in
dem
Sinn. Aber hier war sie besonders häufig.«
    Jenissej sah sich um und nickte. »Was macht sie?«
    »Sie testet Jugendliche. Stellt ihnen Fragen, protokolliert, wertet die Antworten statistisch aus.«
    »Das weiß ich.« Er strich über die Lederlehne eines Sessels. »Was
genau
fragt sie?«
    »Schizophrenie! – Also nein, langsam! – Als ich Lena zum ersten Mal im Institut begegnete, war sie vom PALAU herübergekommen. Sie wissen, dass sie dort ehrenamtlich tätig ist. Erst fand sie die Hilfe für Blinde interessant. Dann wechselte sie zu den Wohngruppen für Jugendliche. Die man gemeinhin ›schwer erziehbar‹ nennt. Sie hat einfach an den Aktionen teilgenommen, die die Erzieher da veranstalten. Die Kids sind zwei bis drei Jahre jünger als sie. Sie ist für sie ein Vorbild   … «
    Jenissej sah sie eindringlich an.
    »   … Sie bekam mit, dass einige der Jugendlichen zu uns wollten. Es ging um eine Testreihe von Frau Doktor Schurz. Früherkennung von Schizophrenie. Lena brannte darauf, selbst mehr darüber zu erfahren, begleitete die Kids hierher und stellte sich ebenfalls als Testperson zur Verfügung.«
    »Schizophrenie   … Davon hat sie nie erzählt. – Ihre Mutter war schizophren.«
    »Ja, das hat sie mir gesagt. Und sie hatte Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden. – Ich dürfte Ihnen das nicht sagen, aber in dem Fall   … «
    Jenissej schloss die Augen, als konzentriere er sich. Er tastete sich um den Sessel und setzte sich. »Und der blöde Vater hat keine Ahnung.«
    »Lena ist manchmal sehr rücksichtsvoll«, sagte Melina. »Das hat gute und schlechte Seiten.«
    »Wird Schizophrenie vererbt?«
    »Die Disposition kann genetisch

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