Jung genug zu sterben
gehe unter und werde keine Luft mehr
bekommen.
Der Teig zieht mich in sich hinein. Der Geschmack von Diamantsplittern
auf der Zunge. Es wird dunkel, der Teig drückt
sich in meine Kehle und nimmt mir die Luft.
Hineingeworfen in eine Sandgrube. Der restliche Teig, der
an mir klebt, wird wie Sand vom Wind verweht.
Die beiden Gestalten. Weiße Kittel. Das sind die
Zucker
-Kittel
. Aber auch die Gesichter sind verkittelt. Ärztekittel mit
angenähtem Mundschutz, das haben die erfunden. Schutzkittel
gegen den Diamantstaub.
Die Ärzte ziehen ihre Kittel aus. Mein Vater und meine
Mutter. Also doch. Also doch.
36
»Oskar, so ist der Film genial! Jetzt wird deutlich, dass der Theophanes nicht nur Geschichtsschreiber war, sondern Sekretär von Crassus. Und außerdem der geheime Baumeister des Bundes zwischen Crassus, Pompeius und Caesar. – Damit hatte Theo Lingen eben nicht die Rolle eines Diktators, sondern einmal mehr die des Sekretärs. Das ist hübsch, wirklich!«
Oskar Schroeter war keine Gefühlsregung anzumerken. Er ließ den Dokumentarfilm zurücklaufen, bis zur Mitte. »Das hier – der Part passt nicht.«
In der Passage ging es um Brecht und sein Verhältnis zu Kindern. Er habe sie sorglos in die Welt gesetzt, ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden, wer sich um die Erziehung kümmert. Dann wurde auf ein Foto von Arthur Miller geschnitten, die Kamera zoomte näher. Der Sprecher aus dem Off erklärte, Miller habe bis 2007, also bis kurz vor seinen Tod, die Existenz seines Sohnes geheim gehalten. Ein Sohn mit Down-Syndrom. Von Miller ins Heim gesteckt und der Öffentlichkeit verschwiegen.
»Was hat der Miller da zu suchen?«, fragte Oskar Schroeter.
»Er ist ein Belegbeispiel. Ich wollte nicht Brecht allein als den Buhmann dastehen lassen.«
»Aber zwischen Brecht und Lingen gibt es einen direkten Bezug. Arthur Miller passt nicht da rein.«
»Oskar, Miller hat sich intensiv mit seinem eigenen Leben auseinandergesetzt. Jede Nuance hat er aufgekrempelt undvor den Lesern seziert. Du weißt, ich wollte mal seine
Zeitkurven
inszenieren, die Autobiografie. Bin immer noch nicht davon los. Und dann platzt die Nachricht rein, dass ausgerechnet dieser Mensch so ein Verdränger ist! Seine Erklärungen und Geständnisse über Marilynn und dann den eigenen Sohn in einem Heim verstecken! Das hat mich … «
»Ja. Dich, Jenissej. Aber für den Film ist es irrelevant. Es stört.« Er fing an, die Passage zu löschen.
»Oskar, die Vaterrolle ist ein elementarer Punkt.«
»Die Zuschauer mussten sich gerade schon auf Theo Lingen einlassen. Dann muten wir ihnen auch noch zu, Bert Brecht in ihr Bild einzufügen. Der Miller ist
too much
. – So. Jetzt sieh es dir an!«
»Du bist die personifizierte Schere, Oskar! Weißt du das?«
»Sieh gefälligst hin!«
Jenissej beugte sich vor und knetete sein Gesicht mit den Händen. »Ja. Besser. Hast recht. Homogener. Die Bezüge zu meiner Inszenierung sind raus. Der Fokus ist auf Lingen gerichtet – wunderbar. Aber lass uns noch eines ändern, mein Lieber: die Titelei. Schreib:
Regie: Oskar Schroeter
. Das Ding hat deine Handschrift, und das ist völlig okay.«
»Du stiehlst dich aus der Verantwortung«, stellte Schroeter fest.
»Nein. Schreib mich hin als – was weiß ich:
Executive
oder
unter Mitwirkung von
.«
»Nein. Ich bin Cutter.«
»Du bist stur.«
»Was ist mit
Ignoranz
?«, fragte Schroeter. »Wann fängst du an?« Er sah Passagen mit Lingen und schnitt Sekundenbruchteile hier und dort weg, wie ein Friseur, der am Ende immer noch eine Haarspitze abstehen sieht.
Jenissej stöhnte laut und anhaltend und streckte die Beine aus. »Ach ja.«
Zu hören waren nur die Tastatur von Schroeters Mischpult.
Jenissej stand auf und ging im Raum auf und ab.
Jetzt drangen kurze Musiksequenzen oder Sprachfetzen unter dem Bildschirm hervor, je nachdem, welche Stelle des Films Schroeter abtastete.
Jenissej blätterte im Schnittplan, ohne sich wirklich mit den einzelnen Blättern zu befassen.
An einer Stelle wollte es Schroeter besonders genau wissen. Immer wieder hörte man die Wortsilbe
… irkte.
… irkte.
… irkte.
»Ich war mit Lena beschäftigt«, sagte Jenissej. »Jetzt ist zum Glück Entwarnung. Lena war auf einer Jugendreise von dieser Institution in Gatow mit dabei, also ist sie nicht verschollen. Oder weggefangen. Oder vergewaltigt. Oder, oder, oder. Sie ist mitgefahren und hat sich mit denen – so sagen sie – in die Wolle gekriegt. Also: Es ist
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