Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
bleiben, und auf Herrn Marek mit seinem Käfer bin ich ja nun Gott sei Dank nicht mehr angewiesen.
Am Nachmittag bin ich bei Martin eingeladen. Seine ganze Familie außer seinem Vater ist da und noch zwei Freunde, die ich nicht kenne, Bernd und Thomas. Bernd ist groß und dick und Thomas das genaue Gegenteil, schmal wie eine Maus mit pechschwarzen Haaren. Bernd sieht man schon von weitem an, dass er fies ist. Wenn man mit dem alleine ist, quält und foltert er einen bestimmt. Er sitzt direkt neben Thomas und kneift ihn dauernd mit voller Wucht in den Rücken. Thomas traut sich aber nicht zu mucken, denn sonst gibt es hinterher oder morgen richtig was. Frau Schipanski hat Buttercremetorte gebacken, die habe ich noch nie gegessen, und sie schmeckt mir auch nicht, weil kein Obst drin ist. Oma bereitet Kuchen und Torten immer mit Obst zu, Apfel, Johannisbeer, Kirsch, Brombeer, Birne. Ich esse mein Stück aus Höflichkeit trotzdem ganz auf. Man hört die Wohnungstür aufgehen, und Herr Schipanski kommt von der Arbeit. Gleich gibt es richtiges Abendbrot, und die Geburtstagstafel wird aufgehoben. Übermorgen ist Weihnachten, und ich kriege schon ganz feuchte Hände bei dem Gedanken daran.
Heiligabend am Mittag trudeln Onkel Otto und Tante Mariechen ein. Tante Mariechen ist Omas Schwester, Oma hätte es nur zu gern, wenn sie auch in den Westen ziehen würden, aber die fühlen sich im Harz wohl, und es stört sie auch nicht, dass es in der DDR nichts Richtiges gibt. Oma hat schon tagelang im Voraus gebacken und gekocht. Weihnachten kann ich mich nach Herzenslust satt essen, wie zuletzt auf der goldenen Hochzeit. Bei den meisten gibt es Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen, aber bei uns gibt es heute schon Gans mit Rotkohl und Salzkartoffeln. Otto und Mariechen sind so alt wie die Großeltern. Tante Mariechen ist schwerhörig, und man muss sehr laut sprechen, und Onkel Otto ist schon ganz schön tatterig, er kann nur noch in kleinen Schritten tippeln. Aber sie haben riesige Pakete mit, wer weiß, wie die die überhaupt in die Eisenbahn gekriegt haben. Die sind bestimmt für mich, denn die Erwachsenen bedenken sich untereinander nur mit Kleinigkeiten. Oma und Mariechen bereiten in der Küche alles für den Abend vor, während Opa und Onkel Otto im Wohnzimmer bleiben. Ich sehe es Opa genau an, dass er lieber wieder in den Keller runter würde, aber er kann Otto ja nicht alleine sitzen lassen.
«Na, Otto, wie geht es euch denn?», fragt Opa.
Onkel Otto winkt ab und sagt: «Der Lack ist ab.»
Darauf weiß Opa nichts Rechtes zu sagen, und ich bin froh, dass Mutter reinkommt und wir langsam mal losmüssen. Vor der Bescherung fahren wir nämlich in das Altersheim Maria-Kroos-Stift, um den alten Leuten dort etwas vorzuflöten. Angelika und Ines, Mutters beste Blockflötenschülerinnen, kommen ebenfalls mit. Wir müssen den Bus um 14 Uhr 17 bekommen, um 14 Uhr 19 steigen die beiden Mädchen eine Station weiter in Hanhoopsfeld dazu. Ich spiele erst nächstes Jahr mit, in diesem Jahr soll ich mir erst mal alles angucken.
Die alten Leute warten schon ganz gespannt, und um Punkt drei geht es los. Mutter hat mit den Mädchen Weihnachtslieder einstudiert. Mein Lieblingsweihnachtsstück heißt «Es ist ein Ros entsprungen». Die alten Menschen sind zu Tränen gerührt und wir auch, weil wir ihnen mit unserem Konzert so eine große Freude machen. Ich denke daran, dass viele von ihnen mutterseelenallein sind, sonst wären sie ja nicht hier. Ein paar von den alten Damen singen lauthals mit, und eine Frau im Rollstuhl singt schneller, als Mutter das Tempo angegeben hat, und alle müssen sich mächtig bemühen, damit sie nicht durch den Tüddel kommen. Zum Glück bemerkt eine Krankenschwester das Malheur und flüstert der alten Dame freundlich etwas ins Ohr, wahrscheinlich, dass sie etwas leiser singen soll. Am Ende des Konzerts gibt es für Mutter einen Blumenstrauß und für uns Kinder Süßigkeiten. Jetzt müssen wir uns aber beeilen, damit wir rechtzeitig in die Kirche kommen.
Daheim warten die alten Leute schon ganz ungeduldig, gestiefelt und gespornt.
«Mensch, Gretchen, wo bleibt ihr denn so lange?»
Die Sinstorfer Kirche ist proppenvoll, wir bekommen kaum noch einen Platz und müssen ganz hinten stehen. Vor zweitausend Jahren wurde Herr Jesu geboren! Das Vaterunser kann ich auswendig, und damit es jeder mitbekommt, spreche ich so laut, dass mich Mutter anstupst. Nach dem Gottesdienst wartet der Pastor am Ausgang. Er
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