Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
drückt allen die Hand und gibt ihnen noch ein paar gute Worte mit auf den Weg. Als der Pastor meine Oma sieht, freut er sich besonders und drückt ihr extra herzlich die Hand, Oma geht nämlich fast jeden Sonntag zum Gottesdienst, und nicht nur Weihnachten oder an anderen Feiertagen. Auf dem Nachhauseweg halte ich es vor Aufregung nicht mehr aus. Kaum haben wir es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht, klingelt es auch schon. Ich weiß natürlich, wer es ist, der Weihnachtsmann. Als Weihnachtsmann sieht Opa noch mal kleiner aus, er hat einen Sack und eine Rute und fragt, wer Mathias ist und ob ich auch immer schön artig war. Natürlich sage ich ja, ein Gedicht oder einen Spruch muss ich nicht aufsagen, dann stülpt Opa den Sack um, und endlich darf ich auspacken: jede Menge Anziehsachen, Spiele und eine Rakete mit Batteriebetrieb, aber das Dollste ist ein Mondauto! Es sieht genauso aus wie das Auto, mit dem die Astronauten auf dem Mond gelandet sind. Es ist das schönste Geschenk, das man sich ausmalen kann. Nach der Bescherung gibt es den Festtagsschmaus, und dann geht Mutter an den Flügel, und wir singen gemeinsam Weihnachtslieder, und ich darf bis halb zehn aufbleiben. In der Nacht kriege ich kein Auge zu. Ich kann es kaum abwarten, am nächsten Tag mit dem Mondauto weiterzuspielen.
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1970
Große Ferien
Morgen beginnen endlich die großen Ferien, und danach komme ich auf die Beobachtungsstufe des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums. Ich bin zwar froh, dass die Grundschule vorbei ist, aber beim Gedanken an einen neuen Klassenverband ist mir doch ein wenig mulmig zumute. Außerdem habe ich jetzt schon Angst davor, Herrn Dierks in Mathe zu bekommen. Heikes Bruder Jochen hat er schon richtig in die Mangel genommen. Er war deswegen zweimal lange Zeit krank, einmal hatte er sogar eine Lungenentzündung, angeblich stand es auf Messers Schneide. Jedenfalls hat Herr Dierks sich Jochen rausgepickt, um ihn fertigzumachen, und Jochen geht ein wie eine Primel. Ich habe jetzt schon Schiss, dass ich Herrn Dierks’ nächstes Opfer werde. Eigentlich würde ich lieber auf die Realschule gehen, aber als ich meiner Mutter damit gekommen bin, wurde sie wütend und meinte, das würde gar nicht in die Tüte kommen, ich soll nicht so faul sein und ohne Fleiß kein Preis, und es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und Genie besteht zu 99 Prozent aus Fleiß und zu einem Prozent aus Genie und die ganzen anderen Sprüche.
In der Nacht zum Ersten Mai ist Onkel Horst an einem Gehirnschlag gestorben, mit gerade mal siebzig! Jetzt hockt Oma Emmi ganz alleine draußen in Todtglüsingen in dem großen Haus, und ihre einzige Gesellschaft ist ihr Dackel Lexi. Ihr Sohn kommt sie auch nur höchstens einmal im Monat besuchen, und er raucht dann auch noch den ganzen Nachmittag Pfeife, obwohl Oma Emmi doch keinen Rauch verträgt und hinterher immer tagelang alle Fenster und Türen sperrangelweit aufreißen muss, um das Haus auszulüften. Sie traut sich aber nichts zu sagen, sonst kann sie in Zukunft auf ihren Sohn warten, bis sie schwarz wird.
Oma Emmi ist Omas Schwester, also ist sie meine Großtante. Jetzt haben mich Oma und Mutter gefragt, ob ich diese Sommerferien aufs Land fahren will. Oma Emmi wäre dann nicht immer die ganze Zeit alleine, und mir würde es dort sicher auch gefallen. Ich habe gesagt, dass ich es erst einmal zwei Wochen versuchen will, und wenn ich Anschluss finde und es mir nicht zu langweilig wird, bleibe ich vielleicht sogar die vollen sechs Wochen.
Morgen geht’s los, mit dem Nahverkehrszug. Eigentlich passt es mir ganz gut, denn Martin fährt mit seiner Familie nach Spanien und danach zu seinen Großeltern ins Ruhrgebiet, und von den Kindern in der Siedlung bleiben nur Uwe und Wolfgang komplett da.
Mutter kommt jeden Tag schlechter gelaunt vom Unterricht. Sie ist mit allem unzufrieden, weil wir immer noch bei den Großeltern wohnen, aber auch, weil ihr Leben so eintönig verläuft. Jeden Tag Unterricht, dann Abendbrot, und wenn sie meine Hausaufgaben kontrolliert hat, ist sie meist schon gegen neun im Bett. Wenn das so weitergeht, geht sie bald noch vor mir schlafen! Ich glaube, dass sie sich nach einem Mann sehnt, aber gesprochen wird darüber nicht. Irgendwie kann ich mir das mittlerweile auch nicht mehr vorstellen, Mutter mit einem Mann. Manchmal sagt sie, dass mir eine starke Hand fehlt, aber das ist Quatsch.
Wegen Mutters Launen ist auch Oma nicht mehr so fröhlich wie früher.
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