Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
die Situation unter Kontrolle hat. Dachsi hat sich jetzt aus seiner Ecke getraut und macht Männchen. So kennt man ihn gar nicht. Dann endlich stellt Emmi völlig erschöpft die Saugerei ein. Mein Ohr ist kochend heiß, es pocht wie sonst was und tut immer noch so weh, dass mir die Tränen runterlaufen, das hatte ich schon ewig nicht mehr. Oma Emmi holt einen kalten Lappen aus der Küche und drückt ihn mir ans Ohr, um die Schwellung zu kühlen. Er stinkt total vergammelt und ist auch nicht richtig kalt. Wahrscheinlich hat der Lappen schon Stunden im Geschirrspülwasser gelegen. Ekelhafte Vorstellung. Jetzt klingelt auch noch das Telefon. Emmi geht ran, es ist Frau Holzapfel wegen irgendeiner Kleinigkeit, auf dem Land kennt jeder jeden. Emmi erzählt ihr, was passiert ist. Pause. Pause. Pause. Dann hängt sie den Hörer ein.
«Frau Holzapfel kommt gleich vorbei. Sie bringt Schmerztropfen mit.»
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier irgendwelche Tropfen helfen, aber egal, schlimmer kann’s ja nicht werden. Keine fünf Minuten später klingelt es. Oma Emmi sperrt den rasenden Dachsi ins Schlafzimmer und öffnet. Frau Holzapfel trägt eine schmutzige, hellblaue Schürze, die Haare hängen ihr wirr ins Gesicht.
«Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Holzapfel.»
«Aber das ist doch selbstverständlich, Frau Beuger. Sie müssen bloß aufpassen, die Tropfen sind sehr stark, also vorher unbedingt auf den Beipackzettel gucken. Die hat Frau Schlummbohm zum Ende hin bekommen, gegen ihre Krebsschmerzen.»
Jetzt wird Oma Emmi doch etwas misstrauisch, und sie presst ihre sowieso schon schmalen Lippen zu einem winzigen Strich zusammen. Frau Holzapfel rafft ihre Haare zusammen und verabschiedet sich mit guten Genesungswünschen. Meine Güte, tut das weh, ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich das noch länger aushalten soll. Emmi studiert mit ihren miserablen Augen den Zettel und kann doch kaum etwas erkennen. Ein schöner Lebensabend ist das! Schließlich tröpfelt sie zwanzig abgezählte Tropfen auf einen Teelöffel. Nachdem ich die Ration runtergewürgt habe, führt Emmi mich wie einen Behinderten zum Fernsehsessel. Zur Ablenkung.
Punkt acht, Tagesschau. Das Ohr ist zwar immer noch heiß und puckert, aber bis zum Wetterbericht ist der Schmerz so gut wie weg. Um 20 Uhr 15 folgt «Ein Platz für Tiere». Ein Bericht über die Löwen im Serengeti-Nationalpark in Tansania. Bernhard Grzimek hat ein ganz liebes Gesicht und bringt uns Fernsehzuschauern auf seine unnachahmliche Art die Geheimnisse der Tierwelt näher. Je länger ich dem Bericht folge, desto mehr werde ich ins Geschehen gesogen, es ist noch viel intensiver als bei «Die Leute von der Shiloh Ranch», wo man beim Vorspann denkt, von einer Büffelherde überrannt zu werden. Ich wünschte, die Sendung würde ewig gehen. Ich bin so glücklich wie in meinem ganzen Leben noch nicht, so kommt’s mir jedenfalls vor. Als dann noch Dachsi auf meinen Schoß springt, kennt meine Seligkeit keine Grenzen. Das hier gerade ist das Wunderbarste, was ich je erlebt habe. Obwohl ich sitze, werde ich fast ohnmächtig vor Entzücken. Rätselhaft, warum «Ein Platz für Tiere» diese Wirkung auf mich hat, ich habe die Sendung doch schon so oft gesehen und fand sie immer ziemlich langweilig. Vielleicht hat der liebe Gott seine Hände im Spiel. Als Oma Emmi was sagt, höre ich nur irgendein verquollenes Gewabbel. Das Reden alter Leute heißt ab heute Brockeln, fällt mir ein, Brockeln, tolles Wort. Ich glaube, ich werde später doch Tarzan. Früher war ich davon überzeugt, Tarzan sei eine Art Beruf, den man übernehmen könnte, wenn man mit der Schule fertig ist. Dann wurde mir klar, dass dem nicht so ist, aber jetzt bin ich mir plötzlich wieder nicht so sicher. Mal abwarten. Ich merke, wie lieb ich Oma Emmi habe. Wieder laufen mir die Tränen übers Gesicht. Emmi denkt, die sind immer noch wegen der Schmerzen. Ich versuche, sie zu beruhigen:
«Lege deinen Kopf in meinen Schoß.»
Sie guckt komisch und geht in die Küche. Gute Gelegenheit, noch was zu lesen. Ich bin den Vampir-Horror-Romanen treu geblieben, mittlerweile umfasst meine Sammlung bestimmt fünfzig Hefte. Heute: «Die Stunde der Raupen». Passt ja irgendwie.
Am nächsten Tag schmerzt das Ohr zwar immer noch, aber es ist echt zum Aushalten. Ich belausche ein Telefonat zwischen Oma Emmi und Frau Holzapfel:
«Ich habe heute Morgen bei gutem Licht noch mal den Beipackzettel studiert. Wissen Sie
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