Junge rettet Freund aus Teich (German Edition)
Hauptschule abgehen. Wenigstens habe ich mich in Mathe auf fünf verbessert, schwacher Trost.
Ich kriege die ganze Nacht kaum ein Auge zu, aber als sich Schipanskis bis zum Mittag immer noch nicht gemeldet haben und ich kurz nach zwei mit gepacktem Koffer an der Bushaltestelle stehe, bin ich erleichtert wie selten im Leben. Die Fahrpläne haben sich zum Jahreswechsel geändert, die Züge nach Tostedt fahren jetzt immer um kurz vor halb.
In Todtglüsingen ist fast alles beim Alten geblieben, nur Wilfried junior lebt jetzt auf dem Lehrhof in Verden an der Aller, und Frau Schlummbohm ist letzten Herbst an Krebs gestorben, im stolzen Alter von 85 Jahren. Ich hätte sie auf zehn Jahre jünger geschätzt. Dafür hat Hummel Junge bekommen, vier an der Zahl, von denen Holzapfels einen Welpen behalten haben, der jetzt fast schon so groß ist wie Hummel selber. Der Konflikt zwischen Ristoffs und Holzapfels konnte nicht beigelegt werden, die beiden Bauern sind seit dem Vorfall damals verfeindet bis aufs Blut. Ich verbringe fast die ganze Zeit mit Manfred, denn Jens hat angeblich schon eine feste Freundin, und von Kai hört und sieht man nichts. Wahrscheinlich hat er jetzt einen Dachschaden und sitzt den ganzen Tag zu Hause, schätze ich, oder er musste sogar ins Heim. Oma Emmi ist trotz Wasser im Knie und Salzlager in den Gelenken noch ganz gut beisammen, ihre mittlerweile achtzig Jahre sieht man ihr kaum an, finde ich. Frau Donath pfeift allerdings auf dem letzten Loch, was sie nicht davon abhält, in jeder freien Minute rüberzukommen. Sie sitzt wie immer steif und verlegen da und reibt ohne Unterlass ihre winzigen Händchen aneinander. Schmirgel. Und wenn sie doch mal einen Mucks macht, klingt es sirrend, wie ein Insekt. Ich frage mich, was jemand wie Frau Donath überhaupt noch vom Leben hat. Ob es irgendetwas gibt, das ihr Freude bereitet? Vielleicht ist da was, was sich aber für einen jungen Menschen nicht erahnen lässt. Aber was? Essen kann es schon mal nicht sein, denn sie ist noch mal einen ganzen Schlag dünner geworden, obwohl das eigentlich gar nicht mehr ging. Ich bin mir sicher, dass sie von jedem etwas stärkeren Windstoß umgerissen würde, ohne Scheiß.
Dachsi wird immer bissiger, es traut sich mittlerweile keiner mehr aufs Grundstück, noch nicht mal Manfred oder der Sohn von Oma Emmi. Wenn der alle Jubeljahre mal vorbeikommt, muss Dachsi im Schlafzimmer eingesperrt werden, wo er sich die Hundelunge aus dem Hals bellt: für den Sohn natürlich ein willkommener Anlass, zeitig die Segel zu streichen. Einmal hat Dachsi einen Kadaver mit nach Hause geschleppt, und als der zufällig anwesende Herr Brettschneider versucht hat, ihm den Braten zu entwinden, hat ihn Dachsi sofort attackiert. Selbst Emmi und mich ist er angegangen. Herr Brettschneider hat das tote Tier schließlich mit seiner Sense weggezogen, während sich Dachsi mit Schaum vor dem Mund in seinen Gummistiefeln verbissen hat. Dieser kleine Hund gleicht mehr und mehr einer Bestie, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand das außer Kontrolle geratene Tier per Genickschuss erledigt.
Dieser Sommer muss vom Wetter her leider ziemlich durchwachsen genannt werden. Zum Glück ist es heute mal wieder richtig heiß, und so konnten wir in aller Herzenslust in der Tonkuhle baden gehen. Kempermanns sind schon ewig nicht mehr aufgekreuzt, das sieht man auch am Zustand des Grundstücks. Die Fischteiche bestehen praktisch nur noch aus Algen und müssten dringend gereinigt werden, sonst ersticken die Fische am Sauerstoffmangel. Vielleicht haben Kempermanns das Anwesen verkauft, oder es hat einen schweren Krankheitsfall in der Familie gegeben.
Als ich gegen sieben heimkomme, hat sich Frau Donath glücklicherweise schon vom Acker gemacht. In letzter Zeit bleibt sie oft bis in die Abendstunden, weil sie schlicht und ergreifend vergisst, nach Hause zu gehen. Oma Emmi sagt auch nichts, obwohl es ihr total auf die Nerven geht, wenn Frau Donath so lange da ist. Der junge Herr Donath macht auch keine Anstalten, seine Mutter abzuholen oder wenigstens mal anzurufen, um zu fragen, ob alles recht ist. Der Familie wäre es wohl am liebsten, wenn Frau Donath einfach nicht mehr auftauchen würde. Vom Erdboden verschwunden, vom Winde verweht. Vielleicht ahnt Frau Donath das im Geheimen, und weil sie ihre Familie nicht belasten möchte, fängt sie schon mal damit an, sich aufzulösen. Bei ihr ist es wirklich vorstellbar, dass das geht. Schweb weg.
Morbus
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