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Junger, Sebastian

Junger, Sebastian

Titel: Junger, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: War
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O'Byrne
hatte mich gebeten, dabei sein zu dürfen. Es ist ein kalter sonniger Tag mit
wenig Verkehr, aber einem Nordwind, der auf offener Strecke und auf Brücken
heftig an den Autos rüttelt. Wir jagen in südlicher Richtung durch das
Industrieödland von New Jersey und Pennsylvania und unterhalten uns über den
Einsatz und den Platoon und wie eigenartig es ist — auf gewisse Weise für uns
beide -, sich endgültig wieder in den USA zu befinden. Ich habe das Jahr damit
verbracht, O'Byrnes Platoon im Korengal zu besuchen, aber das ist jetzt
vorbei, und keiner von uns beiden wird den Ort je wiedersehen. Wir träumen
beide nachts davon, von bizarren, unlogischen Gefechtsabläufen, die zwar nicht
immer böse enden, aber doch von Angst getränkt sind und von Schrecken.
    Kalenits
wurde im Unterleib getroffen, und zwar bei einem Zusammenstoß, der später als
Bella-Hinterhalt bezeichnet wurde. Bella war eine der fünf Firebases, die von
der Chosen Company im Waygal-Tal unterhalten wurden. Anfang November gingen
vierzehn Soldaten der Chosen, zwölf afghanische Soldaten, ein Marine und ein
afghanischer Dolmetscher ins nahe gelegene Dorf Aranas, trafen sich dort mit
Ältesten und machten sich auf den Rückweg. Sie liefen in eine Falle. Der Feind
hatte durch Sandsäcke gesicherte Stellungen rings um einen Teil des Pfads
errichtet, an dem es keine Deckung gab und die einzige Fluchtmöglichkeit darin
bestanden hätte, von einer Klippe zu springen. Wie durch ein Wunder hielt die
Chosen dem Feind stand. Sechs Amerikaner und acht Afghanen kamen ums Leben, und
alle anderen wurden verwundet. Seit Vietnam hat keine amerikanische Patrouille
hundertprozentige Verluste hinnehmen müssen.
    Wir
biegen ins Walter Reed Army Medical Center ein und parken vor Abrains Hall, wo
Kalenits sich aufhält. Wir finden ihn in seinem Zimmer. Er sitzt im Dunkeln,
raucht und sieht fern. Die Jalousien sind geschlossen, und Zigarettenrauch
kräuselt sich in den Lichtstreifen, die durch die Lamellen fallen. Ich frage
Kalenits, wann ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass sie in einen Hinterhalt
geraten waren, und er sagt, das sei gewesen, als ihm der Helm vom Kopf
geschossen wurde. Fast gleichzeitig wurde er dreimal in die Brust getroffen
und zweimal in den Rücken. Dann musste er mit ansehen, wie ein Geschoss seinen
besten Freund in die Stirn traf und dessen Hinterkopf zerbersten ließ.
Kalenits sagt, als er das sah, sei er nur noch »in blankes Entsetzen«
verfallen.
    So
viel Mündungsfeuer blitzte um sie auf, dass man meinen konnte, die Berge seien
mit Christbaumschmuck behängt. Die Geschosse, die Kalenits getroffen hatten,
waren von seiner ballistischen Weste gestoppt worden, aber eines traf ihn
schließlich in die linke Gesäßhälfte. Es zertrümmerte sein Becken, zerriss
seine Gedärme und trat dann durch den Oberschenkel aus. Kalenits war
überzeugt, dass es eine Arterie durchtrennt hatte, und er gab sich nur noch
drei Minuten Zeit zu leben. Er erspähte ein feindliches MG-Team, das fünfzig
Meter entfernt auf einem Hügel Stellung bezog, und schoss darauf. Er sah die
Männer fallen. Er verschoss seine gesamte Munition bis auf ein Magazin, das er
für den Moment aufbewahrte, wenn der Feind zu Fuß durchbrach, um alle
niederzumachen.
    Durch
den Blutverlust schwand Kalenits langsam das Bewusstsein, und er gab seine
Waffe einem anderen Mann. Dann setzte er sich. Er musste zusehen, wie einem
Freund namens Albert ins Knie geschossen wurde, ins Bein und in beide Arme und
dass er am Steilhang abzurutschen drohte. Kalenits' Teamleader packte den Mann
und versuchte, ihn zurückzuziehen, aber sie lagen so sehr unter Beschuss, dass
sie in Gefahr gerieten, beide erschossen zu werden. Albert rief seinem
Teamleader zu, er solle loslassen. Das tat er, und Albert rutschte ein Stück
den Hang hinunter und verlor dabei Waffe und Helm. Schließlich fand er Halt und
wurde dort, wo er lag, noch dreimal angeschossen.
    Raketengetriebene
Granaten (RPGs) detonierten um sie herum und wirbelten derart viel Staub auf,
dass die Waffen blockierten. Die Männer spuckten in die Verschlüsse, um sie zu
säubern. Während der nächsten Stunde fiel Kalenits immer wieder in Ohnmacht,
und das Feuergefecht hielt an wie ein endloses und ohrenbetäubendes
Hintergrundspektakel. Schließlich war es dunkel, und der MEDEVAC-Vogel
knatterte heran. Sie machten sich daran, Verwundete und Tote zu bergen. Ein
toter Mann hing in einem Baum unterhalb des Pfads, und weitere Leichen lagen am
Fuß des

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