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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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erinnerte sich, dass während dieses Gesprächs im Fernsehen ein Film über moderne Malerei lief. Plötzlich hatte Onkel ’Assim Jussif angestarrt. Obwohl Sommer war, saßen sie in dieser heißen Nacht im Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem Tisch standen Schälchen mit Vorspeisen und eine Flasche Arrak, aus der Onkel ‘Assim schon mehr als die Hälfte getrunken hatte. »Möchtest du von uns gern Picasso genannt werden, du, der du doch Maler bist?«, fragte er Jussif. Noch bevor dieserantworten konnte, begann Onkel ‘Assim wieder zu erzählen. Hin und wieder hielt er inne, um einen Schluck aus seinem Glas zu nehmen.
    »Picasso ist nicht sein richtiger Name, wie du vielleicht weißt. Er hat sich diesen Namen zugelegt. Sogar die Franzosen glauben, dass er Franzose ist. Wenn man das Gesicht Picassos – insbesondere seine Nase – betrachtet, könnte man meinen, er sei ein Verwandter von dir. Wenn du Französisch oder Spanisch sprächest oder er des Arabischen mächtig wäre, könnte man euch glatt verwechseln.«
    Jussif erinnerte sich noch, wie Onkel ‘Assim ihn mit diesem Gespräch überraschte. Aber dem Vater einer Braut stand es zu, den zukünftigen Schwiegersohn über seine Pläne für die Zukunft zu befragen. Außerdem zeigte Jussif an jenem Abend durch sein Benehmen, dass er Angst hatte, vom Machtapparat verfolgt zu werden. Er schien auf Hilfe angewiesen zu sein, um seine Haut vor den Killern in Sicherheit zu bringen. Er bestand darauf, trotz Sommerhitze im Inneren des Hauses zu sitzen. Erst später schlug Onkel ‘Assim vor, den Fernseher in den Garten zu stellen. Es war, als meide Jussif offenes Gelände, als habe er die instinktive Angst des Verfolgten, der die Sicherheit eines geschlossenen Raums suche, oder als fürchte er, jemand könne ihn an seiner Stimme erkennen. Er ließ sich ein paar Ausreden einfallen und lenkte das Gespräch wieder auf Picasso und den Kommunismus. Doch wann immer ihm mögliche Erklärungen durch den Kopf gingen, machte sich Jussif bewusst, dass sich Onkel ‘Assim auf die Deutung von Bildern verstand. Sein ganzes Leben war eine Ansammlung von Bildern, und zwar nicht nur denen seiner Erinnerungen, sondern auch denen seiner Gegenwart. Er hatte einmal einen Satz zu Sarab gesagt, den auch Jussif in jener Nacht zu hören bekam: »Die Menschen erinnern sich nicht an die Existenz von Bildern, sondern an die Bilder an sich.« Er konnte jedes Bild lesen. DieGesichter der Bilder, die Gesichter Jussifs, bargen mehr als »elf Sterne, die Sonne und den Mond«, wie er in jener Nacht mit einem Zitat aus der Jussif-Sure des Korans behauptete.
    In jener Nacht und auch in den darauffolgenden Nächten bemühte sich Onkel ‘Assim um die Freundschaft mit seinem Schwiegersohn. Es war, als wollte er den Eindruck erwecken, dass es gar nicht nötig sei, alles über Jussif zu wissen. Vor allem solle sich dieser keine Sorgen machen. Das Leben sei »gleichbedeutend mit einem verspäteten Quentchen vom Glück«. Diese Weisheit gefiel Onkel ‘Assim, und er wiederholte sie immer wieder. Sie fügte der Beziehung zwischen Jussif und seinem Schwiegervater »ein Quentchen« Freundschaftlichkeit hinzu.
    Eines Tages überraschte er Jussif mit der Nachricht, dass er jemanden kenne, der Menschen mit falschen Personalpapieren versorgen könne. Er holte einen Zettel aus seiner Jackentasche und sagte auf Hocharabisch, das er so gern sprach: »Josef Karmali oder Josef K. So nennt er sich selbst aus Liebe zu einem tschechischen Schriftsteller, von dem er behauptet, ihm sehr nahezustehen. Hier ist seine Adresse. Ich überlasse die Angelegenheit dir. Wenn ich dich begleiten soll, gehe ich mit dir. Wenn du ihn lieber allein aufsuchen möchtest, dann tu das.« Jussif zögerte einen Moment, bevor er den Zettel annahm. Er vergaß jedoch nicht, seinem Schwiegervater mit folgenden Worten zu antworten, die als Vorbote für die späteren Geschehnisse eine Menge Ironie enthielten: »Wer trägt wessen Schuld?«
    Jussif fühlte diese bittere Ironie immer dann, wenn er sich an diesen Augenblick und die darauf folgenden Ereignisse erinnerte. Er hatte Josef Karmali aufgesucht, und daraus war eine Freundschaft entstanden. Das Fälschen seiner Papiere führte hingegen zur Katastrophe.
    Zwei Monate, nachdem er die neuen Papiere erhalten hatte, fuhr er mit dem Omnibus auf der Raschid-Straße nach Hause,als plötzlich Männer in Offiziersuniform einstiegen, um die Ausweise zu prüfen und nach Fahnenflüchtigen zu suchen. Sie verhafteten ihn als

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