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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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weiterhin für sich. Er erzählte wie ein Liebender, der die Liebe nicht verlieren will, die er gefunden hat. Wie den meisten Liebenden machte sich Jussif zu spät klar, dass er sich selbst eine Falle stellte, je mehr Geschichten er erzählte, die nicht von ihm handelten. Seit er Sarab bei ihrem ersten Treffen auf ihre Frage nach seinem Namen mit den Worten geantwortet hatte: »Von heute an werde ich die Person, die ich bis jetzt war, aus meinem Gedächtnis streichen und für dich nur noch Harun Wali sein«, wusste er, dass er eine Gelegenheit verpasst hatte. Eine Gelegenheit, von neuem zu beginnen, zu sich selbst, zu seinem nur in der Anonymität bestehenden Namen zurückzufinden und endlich von daheim zu fliehen und alles hinter sich zu lassen: seine Mutter, seine Tante, Mariam, die Frau seines Bruders, und ihre vier Töchter. Stattdessen blieb er, was er war: Harun Wali. So nahm das gefährliche Spiel, das er vor seiner Beziehung mit Sarab begonnen hatte, seinen weiteren Lauf: Er bestand aus zwei Persönlichkeiten. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er dasselbe Spiel auch mit Sarab treiben würde. Im Gegenteil, er hatte es satt, zwei Rollen zu spielen. Er verbrachte die Nächte schlaflos und schlief tagsüber. Heimlich ging er aus dem Haus und heimlich kam er zurück. Er wechselte die Kleider, änderte die Stimme.
    Wieder und wieder, wann immer sie über diesen Moment des Kennenlernens sprachen, sagte Sarab, sie habe alles für möglich gehalten, nur nicht, dass er einen falschen Namen trage. Es war ihr schleierhaft, warum Menschen sich überhaupt andere Namen zulegten. Sie fand das eher komisch. Hatteder magere junge Mann mit den großen Augen, dem breiten Mund und der ausgeprägten Nase damals nicht auf dramatische, von Schauspielerei nicht freie Weise behauptet, dass er »Harun« heiße?
    Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Sarabs Vater über einige seiner Kunden in den vierziger und fünfziger Jahren gesprochen. Er erzählte, wie einige der Männer nach dem Fall der Monarchie am 14. Juli 1958 neue Namen annahmen. Es war ihm nicht leichtgefallen, sie mit ihren geänderten Namen anzureden, wenn er mit ihnen Geschäfte machte wie zuvor. »Es war, als seien sie wiedergeboren«, sagte er.
    Sarab behauptete selber, keine Bilder zu besitzen. Dafür war ihr Vater zuständig. Er gab der Familie Bilder der Erinnerung. Er war der Ansicht, selber viel aus der damaligen Zeit gelernt zu haben, und war stolz darauf, Sarab und Jussif mit seinen Erfahrungen beistehen zu können. Dies erzählte er selbst der in Tränen aufgelösten Sarab, als sie ihn direkt nach seiner Einlieferung im Irrenhaus besuchte. Er erzählte ihr alles, was er über Jussif wusste. Nur wenn man so handelte wie Jussif, könne der Mensch der Welt das Gesicht zeigen, das sie verdiene. Jussif würde allen zeigen, wer er sei.
    Jussif erinnerte sich, wie traurig Sarab aus dem Irrenhaus nach Hause kam, mit welch brüchiger Stimme sie sprach. Sie zweifelte an dem, was ihrem Vater zugestoßen war. Ihre Stimme zitterte vor Wehmut, die Augen waren gerötet vom Weinen, die Brauen geschwollen. Jussif versuchte vergeblich, sie zu trösten. Sie war erschöpft und hatte keine Lust zu reden. Als Jussif sie in die Arme nehmen wollte, stieß sie ihn weg. Das Geschehene war ein schwerer Schlag für sie. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Vater so sprach. Vielleicht machte es sie auch traurig, dass ihr Vater und Jussif mehr voneinander wussten als sie von den beiden.
    Jussif erinnerte sich an ihre Unlust, ihm zuzuhören. Er hattedas Gefühl, dass sie nicht wirklich bei der Sache war. Ihre Mimik sagte ihm, dass sie nur darauf wartete, dass er seine Geschichte zu Ende brächte, um endlich allein sein zu können. Schließlich ging sie in ihr Zimmer und wechselte die Kleider. Sie zog ein schwarzes Gewand an, das ihrer Mutter gehört hatte, die vor vielen Jahren gestorben war. Dann schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und verließ vierzig Tage lang das Haus nicht.
    Jussif schien damals nicht im Geringsten erstaunt zu sein. Der Zustand ihres Vaters hatte ihm schon seit langem Sorgen gemacht. Er hatte das Thema jedoch nicht ansprechen wollen, um sie nicht zu quälen. Jetzt erzählte er Sarab, dass er schon in den ersten Tagen ihres Kennenlernens ihren Vater hatte bitten wollen, ihm zu einem anderen Namen und damit zu einer neuen Identität zu verhelfen. Als dieser ihn nach dem Grund fragte, hätte er die Geschichte natürlich vor ihm verbergen können. Aber er entschloss

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