Jussifs Gesichter
nur wolle – durch das Anhören seiner Aufzeichnungen erneut Zeuge oder auch Richter für die Begebenheiten zwischen den beiden Brüdern sein könne. Aber ich tauge nicht zur Rolle Gottes. Hier, im Land der Gedemütigten und der Siegreichen (wie ich es – anders als er – umgedreht nenne) gibt es niemanden, der zu dieser Rolle taugt. Aber mir ist klar, warum ich zögere. Mir ist klar, dass ermich nicht allein im Chaos seiner Geschichte zurückgelassen hat. Sogar der verantwortliche Arzt im Leichenschauhaus, der seinen Tod erwartet hatte, teilte mir angesichts der Krankenhausformulare, auf die er seinen Namen schrieb, mit: »Niemand hat genaue Kenntnis, was geschehen ist. Ihr Freund hat einmal nach einer Leiche gefragt, die denselben Namen trug wie er. Er hat spöttisch zugegeben, dass er verrückt, aber überzeugt sei, selbst auch ermordet zu werden. Bedeutet dies nicht, dass alle in diesem erhabenen Land sich in erhabene Verrückte verwandeln?« Als ich mich bei ihm erkundigte, was er damit meine, antwortete er: ›Heutzutage sind alle gegen alle.‹ Aber dass zwei Männer auf ihn schießen und behaupten, sie hätten jahrelang nach ihm gefahndet, um diese Geschichte zu beenden, weil er ihnen die Wunden zugefügt hätte, die sie seit Jahren auf den Körpern trügen – das war eine Überraschung für ihn. Er war ihnen selber oft auf den Fluren des Krankenhauses begegnet. Unermüdlich sprachen sie von einem Apparat, der ihnen beim Vergessen helfen sollte. Er dachte, sie faselten wirres Zeug. Aber als er sie wieder traf, schrien sie, sie könnten nicht vergessen, was sie unter der Folter erlitten hätten. Immer wieder hätten sie vergeblich um Hilfe gefleht: Rifqa – Milde, Rahma – Erbarmen, Schafaqa – Gnade, Ra’fa – Mitleid! Er dachte, diese Männer sind wirklich Gestörte oder werden von jemandem bestochen. Sie berichteten, es habe sie noch mehr gequält, wenn er die Hilferufe gehört habe. Er fragte sie, ob ihnen die Namen seiner Töchter gefielen. Und als ich den Angestellten fragte, woher sie wüssten, dass Jussif der gesuchte Mann sei, antwortete er, dass sie behaupteten, sein Bruder habe sie auf ihn hingewiesen. ›Stellen Sie sich das vor‹, sagte der Angestellte. ›Sie beharrten darauf, dem Bruder zu Dank verpflichtet zu sein.‹ So muss das Land in der Zukunft, in der neuen Morgendämmerung aussehen, und so meldeten es später auch die Zeitungen. Bevor ich das Leichenschauhaus verließ,gab mir der Angestellte die Lokalzeitung. Er vergaß nicht, mir sein »sehr, sehr, sehr« (das betonte er mehrmals) neues Mobiltelefon zum Verkauf anzubieten. Ich lehnte ab. Die Zeitung aber, deren Preis ihm unbekannt war, habe ich mitgenommen. Auf dem Heimweg las ich den offiziellen Titel auf der ersten Seite des Blattes ›Die neue Morgendämmerung‹: Die Männer, die an der Zukunft des Landes bauen, darunter das Foto von zwei anderen Männern. Beim Betrachteten des Bildes erkannte ich die beiden Kranken, die am selben Tag wie Jussif aus dem Krankenhaus geflüchtet waren. Hatte er sie beobachtet oder haben sie ihm etwas erzählt, was auch ihn veranlasste zu fliehen? Woher wusste er, dass sie ihm auflauerten? Ich sagte mir, es hat ihn keine große Mühe gekostet, das Gefühl zu erlangen, verfolgt zu werden. Ich dachte, welch sinnloser Tod ihn doch erwartete. In dem Augenblick, als er sein altes Haus erreichte, in dem er einst mit Sarab gelebt hat, durchbohrten vier Schüsse seinen Körper – je einer für die vier Töchter seines Bruders. Es war, als peitsche sein Bruder ihn diesmal eigenhändig aus, einen Schlag für jede Tochter: für Rifqa – Milde oder Rahma – Erbarmen oder Schafaqa – Gnade oder Ra’fa – Mitleid, um die er ihn bat. Aber dann erblickte er das kleine Mädchen, das sich ihm näherte und über seine Stirn strich. Es brach in ein Schluchzen aus, das sich mit dem Schluchzen Sarabs vermischte, die ihn anflehte: ›Bitte, stirb nicht, lass deine Tochter Sarab nicht allein!‹ Dies ließ ihn spüren, dass er nicht sterben, sondern von neuem leben würde. Diesmal würde er es nicht zulassen, von seinem Bruder besiegt zu werden, wie so oft zuvor!
Ich reibe mir die Augen. Es ist, als sei ich es – und nicht er–, der anfing, sich nach seiner Art zu bewegen: wie selbstverständlich flüchten, hierherkommen, ins alte Haus zurückkehren, schlafen, aufwachen, aufwachen, schlafen, nicht wissen, wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann mitten in derNacht aufwachen und sich selbst finden –
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