Jussifs Gesichter
Bagdad mit seinen explodierenden Autos und Humvee-Fahrzeugen, das Bagdad der Banden, des Mordes und der Zerstörung, das Bagdad der Marines und der religiösen, ganz und gar nicht göttlichen Milizen, das Bagdad der Hoffnung und der Fata Morgana ... Und wenn du von dieser ausgedachten Reise nach Hause kommst, wirst du beginnen, dein Bild nach einem Bild zu formen, das zu mir passt: »Jussifs Gesichter« .
Ich bin Jussif Mani, dann und dann in Bagdad geboren, der kleine Bruder des großen Bruders namens Junis. Da ich der kleine war, musste ich hinnehmen, dass mich mein großer Bruder beherrschte. Sogar das Mädchen, in das ich verliebt war, » das kleine Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt « , hatte ein tragisches Schicksal, weil mein großer Bruder sie für sich forderte.
Als ich älter wurde und nicht in den Krieg ziehen wollte, flüchtete ich mich in noch mehr erlogene Eigenschaften und Fälschungen. Es gab kein Entrinnen mehr. Bei alledem übersah ich, wie ich mir mein eigenes Grab schaufelte, dass ich nicht imstande wäre, meine diesmal von ihm ausgewählte Rolle zu einem Ende zu bringen. Junis hatte mir, dem Ahnungslosen, eine Falle gestellt, mich dazu gebracht, freiwillig das Amt des Henkers zu übernehmen, das er fünf unddreißig Jahre lang innegehabt hatte, in der Zeit der schwarzen Herrschaft. Nach dem 9. April 2003 wollte er unter meinem Namen aufsteigen. Er kam auf den Panzern der ausländischen Streitkräfte daher. Er behauptete, ich sei nichts als ein Kranker aus der Irrenanstalt, zerstört von der Schizophrenie. Er habe es satt, die Verantwortung für seinen Namen zu tragen. Wer würde einem Schwächling wie mir schon glauben? Wer würde mir glauben, dass ich nicht Junis sei, sondern Jussif, den der eigene Bruder ins Irrenhaus geworfen hatte, um ihn loszuwerden? Junis konnte sich nicht vorstellen, dass ich mich diesmal wehren würde, und versuchte sich meiner mit allen Mitteln zu entledigen. Verehrter Leser, warum erzähle ich dir dies im Voraus, sage dir, was geschehen wird? Warum halte ich deine Urteilsfähigkeit und Aufmerksamkeit, deine Neugier und das Verlangen, die Geschichte zu erfahren, für zu schwach? Warum begnüge ich mich nicht damit, dir den Zugang zu der Geschichte in dem Maße zu erleichtern, das ich mehr als alles andere für ausreichend halte? Aber bevor ich mich von dir verabschiede und dich der weiteren Lektüre der Geschichte überlasse, sei es mir jetzt noch erlaubt, dir etwas Wichtiges mitzuteilen: Ich kenne zwar nicht die Zahl der Namen, die ich mir bis heute zugelegt habe, aber der einzige mir bekannte Name, dem ich treu geblieben bin, ist mein Name, Jussif Mani, Jussif der Unschuldige, der sein Lebtag niemanden getötet hat. Lebe wohl, lieber Leser, und erinnere dich eines Freundes im Unglück, der da Jussif heißt und in Bagdad lebt …
Jussif Mani,
Krankenhaus der Gerichtsmedizin
Bagdad
Das Ende der Geschichte
Ich wusste nicht, warum ich auf einmal Angst bekam, die Person, die dort schlief, könnte jede sein außer mir selbst. Oder war es das Echo auf den letzten Satz aus dem Kassettenrekorder, der mich vor Bestürzung zusammenzucken ließ?
»Der jüngste Tag ist angebrochen, und der Mörder muss seine Schulden begleichen.«
Ich blickte um mich, dann sah ich aus dem Fenster. Draußen, hinter den Gardinen, war es immer noch dunkel. Der Garten wirkte weit entfernt, war kaum zu sehen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich auf dem Bett verbracht hatte. Es war so breit, dass mindestens zwei Personen darauf Platz fanden. Für meinen schmächtigen, zu einer Kugel zusammengerollten Körper – die Haltung, in der Jussif sich auf diesem Bett ausgeruht und mir vor dem Einschlafen eine seiner Geschichten erzählt hatte – war es viel zu breit. Vielleicht waren seit meinem Einschlafen etliche Stunden vergangen. Wie ich mich jetzt erinnerte, hatte ich mich nicht hingelegt, um zu schlafen, sondern um seinen Erzählungen auf dem Kassettenrekorder zu lauschen, wie er mich gebeten hatte. (Später legte ich das Gerät in die kleine Kommode an der Fensterseite zwischen Bett und Wand.) Ich wollte mich an den Esstisch in der Nähe des Fensters setzen, doch die alle Fasern meines Körpers erfassende Müdigkeit saß so tief, dass ich es für besser hielt, mich auf das Bett zu legen. Essah ohnehin so aus, als stünde es nur für mich bereit und sei nicht das Bett, in dem Jussif seit Jahren geschlafen hatte. Bevor ich die Augen schloss, sann ich
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