Jussifs Gesichter
wie es jetzt mit mir geschah: auf dem Bett liegend, seinen Herzschlägen lauschend, bevor der Puls verebbt und er zu einem der Toten wird. Weil er sich so sehr wünscht, ein anderer zu sein, erlebt er eine unendliche Qual. Er tastet nach seinem Puls, fühlt die Schläge und spricht zu sich: ›Dann lebe ich also. Der Tote muss ein anderer sein als ich. Ich habe das Krankenhaus schon vor Wochen verlassen, nach meiner Genesung. Mit der Zeit werde ich auch die Schüsse vollständig aus meinem Gedächtnis vertreiben.‹ Ich höre, wie sein Atem geht, lasse ihn durch meine Wiederbelebung gekräftigt zu sich kommen, bringe ihn dazu zu lauschen: Er hört ein leises, pfeifendes Geräusch, das durch das Fenster aus dem Garten kommt. Er meint, es muss die Morgendämmerung sein. Zweifellos erwachen gerade die Tiere der Morgendämmerung wie er und vergewissern sich, dass sie noch am Leben sind, dass eine weitere Nacht vergangen ist und sie sich auf die Arbeit des kommenden Tages vorbereiten können, auf die Mühe eines Tages, der noch wie im Schlaf gähnt und die Nacht abzuschütteln versucht. Von weitem hört er das Krachen einer Feuersalve, in die sich der Lärm des Schnellzugs mischt. Je weiter der Zug sich entfernt, desto mehr stellt er sich vor, er könne mit seinem Pfeifen die Grenzen einer neuen Strecke abstecken. Es ist, als sei er ein Reisender, der am nächsten Bahnhof aussteigen möchte. Und er staunt über sich: Sieh einer an, ich bin tatsächlich ein anderer. Ich sehe mich deutlich:
Ich reckte die Glieder und richtete mich ein wenig auf. Dann streckte ich die Hand nach der kleinen Kommode aus, die neben dem Bett an der Wand stand, und holte meine Uhr heraus. Ich warf einen Blick auf das phosphoreszierende Zifferblatt: Es war etwa vier Uhr. Mir fiel ein Satz ein, von dem ich nicht mehr wusste, wo ich ihn gehört oder gelesen hatte: »Dies ist der Moment, in dem der Kranke merkt, dass er reisen, dass er eine Nacht in einem unbekannten Hotel verbringen muss.Wenn das Licht unter der Türschwelle hindurchscheint, erwacht mit etwas Glück das Ergebnis irgendeines Gedankens.«
Was mich betrifft, saß der Kranke allerdings nicht in einem unbekannten Hotel, sondern in einem Haus mitten in der Stadt, einem Haus an einem Nirgendwo. Er befand sich nur an Stelle des Kranken. Er lag auf dessen Bett und stellte sich den Lichtschein nur vor. Dieser Schein stammte vom Phosphor im Innern seiner Uhr, die er neben eine Tageszeitung, eine dicke Arztbrille und den Kassettenrekorder in die Nähe des Telefonapparats gelegt hatte. Er war verwirrt und konnte sich auf keine einzige Geschichte konzentrieren. Er vernahm nur einen von allen Zimmerwänden widerhallenden Satz: »Wenn Sie die Wahrheit erfahren wollen, hören Sie an, was der Kassettenrekorder erzählt.« Er drückte den Einschaltknopf des Kassettenrekorders, rieb sich die Augen und blickte um sich, als erwachte er aus einem langen Albtraum. Und er erkannte – oder bildete es sich ein – das Gesicht eines elfjährigen Mädchens im Dunkel hinter der Fensterscheibe. Ja, alles deutete auf die wirkliche Sarab hin – eine dort harrende Fata Morgana. Jetzt streichelte sie die Hand des Mannes auf dem breiten Bett, viel zu breit für seinen ausgezehrten Körper. Seine Lippen murmelten etwas, das nur das Mädchen verstand. Er bat sie, nicht zu vergessen, was ihm und den Menschen in seiner Umgebung zugestoßen war. Auch die Geschichten, die er ihr erzählt hatte, sollte sie nicht vergessen, egal wie alt sie werden sollte. Jede einzelne seiner Geschichten sollte sie sich wieder und wieder vergegenwärtigen, bevor sie aufstehen und sich in eine andere Person verwandeln würde. Er würde seine tägliche Reise durch vertraute Orte antreten, und vor seinen Augen würde – gewollt oder ungewollt – das Bild erscheinen: das Bild Jussifs.
April 2003 – Dezember 2004
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