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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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trugdieser Tage keine Waffe? Es war besser, ohne einen weiteren Blick zurück geradeaus zu gehen.
    Sei es, wie es sei, sagte sich Jussif und beschloss, auf direktem Weg zum Krankenhauskomplex »Medizinstadt« zu laufen. Diesmal wollte er sichergehen, dass im dortigen Leichenschauhaus der Name seines Bruders vermerkt war. Vor mehr als zehn Jahren war dessen Leichnam – so ein Gerücht – dort abgegeben worden.
    Der Gedanke an das Leichenschauhaus hatte ihn schon lange beschäftigt, nur kam er ihm zunehmend abwegig vor. Es stimmte zwar, dass er in den Registern – falls sie noch existierten – nach dem Namen suchen konnte. Aber was würde geschehen, wenn er herausfände, dass sein Bruder seinetwegen gestorben war? Vielleicht war der Bruder festgenommen worden, weil er seinen Namen trug, so wie er auch jetzt sicher deshalb verfolgt wurde, weil er den Namen seines Bruders trug? Dieser Gedanke machte ihm Angst.
    Am Ende des Platzes beim Bab al-Mu’adhdham, vor dem Anstieg zur Brücke des 17. Juli, betrat Jussif den Krankenhauskomplex. Er ging direkt zur Gerichtsmedizin, vorbei an einem Blumenverkäufer, an Flaschen-und Teeverkäufern, vorbei an den Läden und Tischchen, auf denen Süßigkeiten, Säfte, Medikamente, Kosmetika, Seife, Rasierutensilien, Haarshampoo und alle Arten gefälschter Markenzigaretten auslagen. An den Seiten des von Bäumen gesäumten Durchgangs standen Wasserverkäufer dicht bei dicht. Minderjährige Burschen, die gebrauchte Stromgeneratoren mit sich schleppten, drängelten sich durch die Menge. Alle priesen ihre Waren lauthals an, außer einigen Jungen, die mit einem Stück Pappe in den Händen in einer Ecke zusammenhockten, als warteten sie auf irgendetwas.
    Der Anblick versetzte Jussif in Erstaunen. Er hatte den Ort seit über zwanzig Jahren nicht mehr besucht. Damals war eraus dem Gefängnis des Geheimdienstes im Verteidigungsministerium entlassen worden, das dem Krankenhauskomplex gegenüber lag. Er erinnerte sich, dass die Fassade des Krankenhauses damals grün gestrichen und sauber gewesen war. Jetzt hatte es sich in einen Bazar verwandelt. Man konnte nicht unterscheiden, ob die Menschen gekommen waren, um Handel zu treiben oder sich untersuchen zu lassen. Auch früher hatte es einen Bazar gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß, und alles war nach festen Regeln abgelaufen. So hatten es sich vor allem die auf ihre Behandlung wartenden Dörfler und Dörflerinnen auf dem Boden bequem gemacht und ihre Zigaretten geraucht.
    Jussif hatte diesen Ort nicht vergessen. Er erinnerte sich, dass er früher einmal hier gearbeitet hatte. Waren es eine oder zwei Wochen, ein oder zwei Monate, ja vielleicht ein oder zwei Jahre gewesen? Das genaue Datum war ihm entfallen. Er erinnerte sich, dass Krieg war. Aber welcher Krieg? Das Land durchlitt seit seiner Gründung einen Krieg nach dem anderen! In jener Zeit hatte er bei den Regierungsbehörden die Klinken geputzt – das Schrecklichste, was er je machen musste.
    Jussif setzte die Drehtür in Bewegung, um das Krankenhaus zu betreten. Als er auf den Korridor stieß, der zu den Büros der Angestellten führte, hielt er wie vom Donner gerührt inne. Ein unfasslicher Anblick bot sich ihm dar: Eine wirre Menschenmenge schrie ohrenbetäubend durcheinander. Es fiel ihm schwer, sich einen Weg durch die Masse zu bahnen. Schließlich fand er das Büro des Totenregistrators in der Pathologie, das er ungehindert betreten konnte. Vielleicht hielten die Menschen im Korridor ihn für einen Mitarbeiter des Krankenhauses?
    Es waren ausschließlich Männer; eine Frau war hier unvorstellbar. Alles deutete darauf hin, dass die Männer seit Ewigkeiten an diesen Ort festgenagelt waren, »noch vor Gründungdes Krankenhauses«, oder – wie Jussif für sich spöttisch hinzufügte – »seit Tag und Nacht«. Dieser Gedanke verstärkte sich, als er die Männer näher ansah: Aus ihren Gesichtern sprach Erschöpfung; sie waren alt und grau vor Staub. Ihre Kleider waren zerschlissen. Sie liefen barfuß, an ihren Fersen klafften blutige Risse, die Hände starrten vor Schmutz. Ihre Körper stanken nach Schweiß und Dreck. Es war, als kämpften sie in diesem Gedränge gegen Elend, Unrat und Einsamkeit.
    Einen Moment lang schien es Jussif, als wären sie übereingekommen, unterschiedliche Haltungen einzunehmen. Aufrecht standen die, die sich vorne, in der Nähe des Haupteingangs aufhielten. Andere hatten sich in der Mitte des Flurs für das Liegen entschieden; sie schliefen. Dahinter gab

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